Über den Dächern von Prag: Eine Reise in die Kreativszene der tschechischen Hauptstadt
Was wohl nur den wenigsten bekannt ist: Tschechen sind besonders ulkige Leute. Das behauptet jedenfalls Leon Jakimič, Gründer und CEO der Leuchten- und Glasfirma Lasvit. Eigentlich zitiert er nur. Und zwar eine Koryphäe in Sachen Humor: Michael Palin, Mitglied der legendären Truppe Monty Python. Es gibt ein Video auf YouTube; in einem Interview auf die Frage nach dem Volk mit dem besten Humor nennt er dort nach kurzer Bedenkzeit – die Tschechen.
Natürlich kann man sich bei einem Monty-Python-Mitglied nie sicher sein, wo Ernst beginnt und Spaß aufhört. Aber Leon ist sich der Existenz des besonderen tschechischen Witzes sicher. Bei einigen Gläsern Wein während eines ausgedehnten Abendessens erzählt er von einer Eulenspiegelei, die sich zu Zeiten des real existierenden Sozialismus zugetragen hat: „Damals gab es diese großen Tafeln in der Stadt mit motivierenden Sprüchen. Auf einer stand: ‚Sowjetunion – für immer!‘ Darunter hatte ein mutiger Geist getextet: Aber keine Sekunde länger.“
Diese Anekdote könnte in der Tat geeignet sein, Michael Palins Wohlwollen für den Humor der Tschechen zu bestätigen. Leon selbst ist übrigens ebenfalls für jeden Scherz zu haben. Die Bitte des Fotografen, einen Barhocker aus dem Restaurant zu leihen und sich damit auf die nördlich der berühmten Karlsbrücke gelegene Moldau-Überquerung zu setzen, quittiert er mit spitzbübischem Lächeln und einem: „Why not? It’s fun.“
Prag ist für ihn Spielwiese und Fundus, obwohl seine Firma im nördlichen Böhmen angesiedelt ist – und er selbst im fernen Hongkong. Aber in Prag schlägt das Herz Tschechiens, die Hauptstadt gibt die Impulse. Hier wirken die Designer, die seinem Unternehmen den besonderen Touch verleihen. Die einheimischen Gestalter bestimmen noch immer maßgeblich die DNA des Unternehmens. Und irgendwie haben oder hatten alle irgendwas mit Lasvit zu tun.
Lucie Koldová zum Beispiel, die ihr fotogenes Hinterhof-Studio im mondänen Bezirk Prag 6 eingerichtet hat. Mit Leuchtendesign machte sie sich einen Namen. Weit über Tschechiens Grenzen hinaus bekannt wurde sie, als man sie für die Gestaltung der Installation „Das Haus“ auf der Kölner Möbelmesse imm cologne auswählte. Zu Beginn ihrer Karriere flirtete sie mit Lasvit (oder umgekehrt), 2014 entschied sie sich für eine andere Beziehung und wurde Creative Director beim Konkurrenten Brokis, dem zweiten großen Leuchten- und Glasproduzenten Tschechiens. „Aber“, betont sie, während sie anmutig die Treppe aus der oberen Etage herunterturnt, „nicht dass ihr mich nur als Leuchtendesignerin abstempelt.“
So sei eines ihrer neuesten Werke besonders erwähnt: der „Chips Chair“, ein von Kartoffel-Snacks inspirierter Sessel, der für den tschechischen Hersteller Ton produziert wird, einem Nachfolger des Bugholz-Urvaters Michael Thonet.
Nicht weit von Koldovás Studio entfernt befindet sich die – Achtung, Zungenbrecher! – Tschechische Technische Universität. In sehr wenigen Orten weltweit wäre eine solche Einrichtung die Erwähnung wert. In Prag schon. Denn die dazugehörige Bibliothek ist ein Beispiel dafür, wie Architektur und Gestaltung Studierende motivieren können. Die Halle wird umringt von Galerien, deren Fußböden in Regenbogenfarben leuchten, was vor allem aus dem obersten Stockwerk in Kombination mit dem hellgrauen Beton und dem flächendeckenden Oberlicht ein schönes Bild ergibt. Die Stimmung unter den Studierenden ist entsprechend gelöst.
Lässig drauf sind auch Jan Plecháč & Henry Wielgus, zwei äußerlich ziemlich ungleiche Typen, die festgestellt haben, dass sie ziemlich gleiche Ideen haben. Also etablierten sie als Duo in einem der jungen Szeneviertel südöstlich des Hauptbahnhofs ein Designstudio. Dieses ist derzeit allerdings wegen Umzug in eine neue Location „under construction“. Genauer gesagt: Es ist ein leeres, dachloses Haus im Hinterhof. Aber die beiden sind guter Dinge. Wird schon. Gegen ein Fotoshooting mit Vespa und Bierchen auf der Baustelle haben sie nichts. Jan Plecháč ist mal international aufgefallen mit Drahtgitterversionen von Stuhlklassikern wie dem „Panton Chair“; gemeinsam haben sie die Serie „Neverending Glory“ entworfen, den Bestseller für Lasvit. „Eigentlich sind wir jedoch mehr spezialisiert auf ganze Interieurs“, erklärt Jan. „Für Shops und Bars und so“, präzisiert Henry.
Kein Wunder, dass sie diesbezüglich einige Tipps auf Lager haben. Ihr heißester ist eine Eigenkreation im Bezirk Prag 7, nördlich der Moldau: weiß getünchte Werkbänke, gestapelte, weiß gestrichene Kühlschränke, zwischen denen die weiße Tür zu den Toiletten erkennbar ist, weiße Wände, weiße Stühle. Alles vom Trödel, vom Recyclinghof, vom Sperrmüll. Preiswert, nachhaltig, cool. Die Winebar „Dvojka“ ist jüngstes Juwel der Szene – aber chancenlos, lange Geheimtipp zu bleiben.
Auch Prags Zentrum wird übrigens nicht kampflos den Touristenmassen überlassen. Es gibt sogar im Auge des Orkans kulturbeflissener Besucher kultige Etablissements, in denen die Insider der Stadt ausgiebig das Leben genießen. Selbst wenn diese Orte – unglücklicherweise dank verräterischer Artikel wie diesem – mehr und mehr von Auswärtigen geflutet werden. Jan & Henry schwören auf die „Kantyna“, fünf Gehminuten vom Wenzelsplatz entfernt. In dem ehemaligen Bankgebäude inmitten prächtigen Jugendstil-Dekors werden Vegetarier wohl eher nicht glücklich. Links neben dem Eingang präsentieren Fleischer ihr verlockendes Angebot: Steaks jeder Art und Größe, Wurstspezialitäten, Schnitzel, unter denen die Teller verschwinden. Kann man für zu Hause kaufen, muss man aber nicht. Macht auch kaum jemand. Man sucht sich vielmehr ein Stück aus und lässt es dann grillen, versorgt sich derweil mit einem Krug Pils an der Selbstbedienungsschänke – und wird später kugelrund und glücklich den Heimweg antreten.
Die „Kantyna“ haben nicht nur Jan & Henry dringend empfohlen. Auch Maxim Velčovský gab den Tipp. Das ist der Designer, dessen Spuren man in Prag an jeder zweiten Ecke entdeckt. Maxim, Markenzeichen markanter Afro-Look, zeichnet als Art Director verantwortlich für verschiedene Installationen, die im Stadtgebiet verstreut in Bürogebäuden und Passagen zu finden sind. Er war außerdem Art Director der Design-Galerie Qubus, die stilprägend für die junge Szene ist und immer noch Maxims Werke führt, die längst zu Klassikern des tschechischen Designs avanciert sind. Des Weiteren geht der Wandschmuck einer Bierkneipe mit dem wunderbar unprätentiösen Namen „Lokal“ auf sein Konto: an Comics erinnernde Zeichnungen, die wie hintergrundbeleuchtete Intarsien in die Vertäfelung geritzt sind.
Maxim hat noch einen ganz speziellen, ganz geheimen Geheimtipp parat: die Lucerna Galerie. Das klingt im ersten Moment etwas enttäuschend. Sie ist wohl die prominenteste Galerie Prags mit Musikclub, Kino, Kunstgalerie und Kunst von David Černý – einem kopfüber von der Decke hängenden Pferd, auf dessen Bauch ein stolzer, etwas orientierungsloser Reiter sitzt. Steht in jedem durchschnittlichen Reiseführer...
Der Geheimtipp befindet sich dann eine Paternoster-Fahrt bis zur oberen Kehrtwende und eine weitere Etage treppensteigend entfernt. Dort gelangt der Insider aufs Dach und staunt über ein unendliches Stufengewirr, das die in Wahrheit vielen verschiedenen Dächer über der Galerie begehbar verbindet.
Samstags, sonntags und montags sieht man davon allerdings nicht viel: Dann tummeln sich hier bis zu 2000 Gäste, die Ondřej Kobzas Partys und Veranstaltungen in dieser ungewöhnlichen Location miterleben wollen. Ondrej ist der vielleicht exzentrischste Prager; schon die Einordnung seiner Tätigkeitsfelder bereitet ihm und seinen Gesprächspartnern Mühe. Am ehesten könnte man ihn vielleicht als Konzeptkünstler, Eventerfinder, Überrascher bezeichnen. Er wohnt temporär über den Dächern von Prag, seine Zimmer kann er nur durch ein Fenster erreichen. Wenn er nicht hier ist, wohnt er auf seiner Burg, eineinhalb Autostunden entfernt. Die hat er äußerst günstig mieten können, und sie ist auch der viel angemessenere Platz für seine Ziegen, denen der Trubel hoch über der Stadt nicht so gut gefällt.