Kopenhagen: Welthauptstadt der Architektur 2023
Credits: Holger Thalmann
Der Mensch braucht Ziele. Das trifft wohl auf Marc Lichte auf besondere Weise zu. Beruflich hatte er sich schon früh auf eine Branche festgelegt: Autos zu kreieren war sein Traum, den er mit Leidenschaft, Disziplin und dem gewissen Quäntchen Glück wahr gemacht hat. Acht Jahre steht der gebürtige Sauerländer inzwischen an der Spitze des Designteams bei Audi in Ingolstadt. Seine zweite Passion, das Segeln, treibt den Familienvater regelmäßig über die Ostsee nach Kopenhagen.
Seit er 2005 hier zum ersten Mal Anker geworfen hat, lässt ihn die dänische Metropole am Öresund, der Meerenge zwischen Dänemark und Schweden, nicht mehr los. "Wir kommen mindestens dreimal im Jahr nach Kopenhagen und im Sommer immer mit dem Boot. Die Brücke nach Malmö ist quasi unser Zielbanner. Wir legen im Hafen bei der Kleinen Meerjungfrau an und dann heißt es: runter vom Schiff und rauf auf die Räder für die erste Erkundungstour durch die Stadt", verrät Marc Lichte, dessen Reiseplanung in Dänemarks Hauptstadt übrigens stark von einer Speisekarte abhängt. Aber dazu später mehr.
Kopenhagen: Glücksgefühle in Beton gegossen
Der erste Weg allerdings hat auch mit Essen zu tun und führt auf das ehemalige Werftgelände der Halbinsel Refshaleøen, wo der Streetfoodmarkt "Reffen" zu einer kulinarischen Reise durch siebzehn Nationen einlädt. In übereinandergestapelten Überseecontainern entstehen hier mit Lässigkeit die köstlichsten Kreationen, die – von Livemusik begleitet – unter freiem Himmel an langen Tischen genossen werden. Es ist definitiv der richtige Ort, um auch mental in einer Stadt anzukommen, die als eine der lebenswertesten weltweit gilt.
"Architektur begeistert mich. Sie geht uns alle an und in Kopenhagen kann man hautnah erleben, wie sie uns Menschen miteinander verbindet."
Für Marc Lichte besteht Kopenhagens Reiz ohnehin aus der Mischung von guter Küche, gutem Design und guter Architektur. Zu Letzterer gehören hier eben nicht nur die historischen Alt- und spektakulären Neubauten, sondern auch der urbane Raum, der zwischen den Gebäuden liegt und mehr ist als nur Durchgangsfläche oder Parkplatz. Die unter allen Aspekten soziale sowie nachhaltige Stadtplanung gab schließlich auch den Ausschlag für die Wahl der UNESCO, Kopenhagen zur Welthauptstadt der Architektur 2023 zu küren.
Urbane Wohnzimmer in Kopenhagen
Als Beispiel für die erfolgreiche Nutzbarkeit von öffentlichem Raum dient "Superkilen" im Stadtteil Nørrebro, wo für eine multikulturelle Nachbarschaft ein identitätsstiftendes Quartier geschaffen werden sollte. Geplant wurde es vom Kopenhagener Architekturbüro BIG, dessen Inhaber Bjarke Ingels nicht nur für Marc Lichte zu einem der weltweit besten Architekten zählt. Dank einer Metro, die eine platzfressende Straßenbahnlinie samt Depot unnötig machte, ist ein farbenfroher Park entstanden.
Die eineinhalb Kilometer lange Fläche gliedert sich in drei Bereiche, die unter Einbeziehung der AnwohnerInnen mit Exponaten von 57 Nationen gestaltet wurde. In der sportlichen roten Zone befindet sich neben Schaukeln auch ein Boxring, während die angrenzende schwarze Zone mit Brunnen, Bänken und Spielflächen als Ort zum Verweilen die Aufgabe des städtischen Wohnzimmers übernimmt. Weiße Linien auf dem dunklen Asphalt sorgen für Dynamik und dienen zugleich als Wegweiser in den Park. Diese natürlich grüne Zone lädt Familien zum Picknicken vor ihrer Haustür ein.
Dass solche Projekte zur Stadterneuerung überhaupt ins Leben gerufen wurden, verdankt Kopenhagens Bevölkerung einer innovativen Stadtverwaltung, die bereits mit dem U-Bahn-Ausbau Anfang des neuen Jahrtausends Weitsicht bewiesen hat. Die vier Metrolinien führten damals zunächst ins Nirwana, überirdisch herrschte an den Endstationen die große Leere. Aber im Bürgermeisteramt und bei der Landesregierung war man sich sicher: Wenn erst die nötige Infrastruktur vorhanden ist, wird auch neues Leben in der revitalisierten Hafenstadt entstehen. Tatsächlich war die dänische Hauptstadt Anfang der Neunzigerjahre nahe am Bankrott und der Industriehafen nicht mehr wirtschaftlich. Als Wohnort galt Kopenhagen trotz Küstennähe als unattraktiv, denn die Hafenanlagen versperrten einen direkten Zugang zum Wasser.
"Ich bin verrückt nach Autos. Aber in Kopenhagen steig ich liebend gern aufs Fahrrad um."
Wie pragmatisch die Lösungen für die Bausünden der Vergangenheit aussehen können, zeigt das Blox auf dem ufernahen Grundstück eines urbanen Restraums, gelegen an der Trasse einer Umgehungsstraße. Das vom Niederländer Rem Koolhaas gegründete Büro OMA hat auf dem Areal ein radikales Baukonzept realisiert, das der Nachbarschaft aus historischem Bestand und modernen Kulturinstitutionen – wie dem „schwarzen Diamanten“ der neu erbauten Königlichen Bibliothek – gerecht wird.
Zum zweiten Teil des Interviews mit Bjarke Ingels
Zum dritten Teil des Interviews mit Bjarke Ingels
Wie übereinandergesetzte Kuben reckt sich – nach Entwürfen der OMA-Partnerin Ellen van Loon – der grün verglaste Stahlskelettbau als Straßenüberbauung auf fünf Etagen in die Höhe. In der Tiefe sind zudem auf insgesamt 5000 Quadratmetern automatisierte Tiefgaragenplätze entstanden. Die lästige Suche nach einem freien Platz entfällt hier, denn das Auto wird innerhalb von 60 Sekunden per Lift, Rollbänder und künstlicher Intelligenz fahrerlos geparkt. Hinter der wasser- und himmelreflektierenden Fassade des Blox findet neben einem Fitnessstudio und privaten Wohnungen auch das "Danish Architecture Center" seinen Standort.
Gutes Design ist Teil der dänischen DNA
Im DAC finden wechselnde Ausstellungen und Veranstaltungen statt, die Bewohner:innen wie auch Besucher:innen Kopenhagens über neueste Entwicklungen regionaler und internationaler Architektur sowie über dänisches Design auf unterhaltsame, spielerische Art informieren. "Das ist genial, wie die Dänen schon die Kinder an ihr Kulturgut heranführen", findet Marc Lichte, großer Fan der typisch skandinavischen Ästhetik. Diese ist auch ein wesentlicher Beweggrund für seine regelmäßigen Reisen an den Öresund. Sein absoluter Sehnsuchtsort in der Stadt ist das Noma, das bereits fünf Mal zum besten Restaurant der Welt gekürt worden ist. Der Designer ist aber nicht allein von der mit drei Michelin-Sternen ausgezeichneten Küche angetan, auch Architektur und Interieur dieser kulinarischen Pilgerstätte begeistern ihn.
Ob das Geschirr aus der Manufaktur von KH Würtz, die Essstühle von Brdr. Krüger (nach Entwürfen vom Studio David Thulstrup) oder der pavillonartige Bau, der wie ein Dorf im Miniformat anmutet – für Marc Lichte ist das Noma eine stete Inspirationsquelle. "Seit meine Frau und ich 2011 zum ersten Mal im Noma waren, damals noch in der alten Location im Hafen von Christianshavn, haben wir praktisch keinen Menüwechsel mehr ausgelassen."
Die Speisekarte ändert sich dreimal im Jahr. Im Frühjahr, im Sommer und zur Herbst-Winter-Saison wird den Gästen jeweils ein zwanziggängiges Menü geboten. "Man wählt nur die Getränke, mit oder ohne Alkohol oder einem Mix aus beidem, das ist alles. Jedes Mal ist es aufs Neue ein unglaubliches Erlebnis", schwärmt Marc Lichte, den über die Jahre eine enge Freundschaft mit Noma-Geschäftsführer und Audi-Fan Peter Kreiner verbindet. Den neuen Standort des Restaurants wurde von Bjarke Ingels geplant – und der stellt auch eine weitere Verbindung zwischen den beiden dar. Denn der Architekt gehört mit seinen Visionen und kreativen Lösungen definitiv zu Marc Lichtes Idolen.
Schaltzentrale moderner Architektur in Kopenhagen
Ein Besuch in dessen Büro ist für den Autodesigner somit auch ein weiteres Highlight bei einem Aufenthalt in Kopenhagen. Das BIG, Headquarter der Bjarke Ingels Group, öffnet seine Türen uneingeschränkt (nach vorheriger Anmeldung) und bietet einen authentischen Einblick in die typisch skandinavische Arbeitswelt. Hinter der historischen Fassade einer ehemaligen Kronkorken-Fabrik ringen mehr als 300 MitarbeiterInnen täglich um die besten Ideen. Dicht gedrängte Schreibtische unter einer zehn Meter hohen Decke liefern die inspirierende Atmosphäre für ein junges Team mit Architektur-Expertise und interdisziplinärer Offenheit. "Bjarke hat ein unglaubliches Gespür dafür, Räume für Menschen zu kreieren. Bei ihm steht der Mensch im Mittelpunkt, seine Entwürfe sind Begegnungsstätten, sie steigern die Lebensqualität", begeistert sich Marc Lichte und findet seine Einschätzung auch beim gemeinsamen Besuch der Baustelle für das neue BIG-Headquarter im Nordhavn bestätigt.
An der äußersten Spitze des Hafenareals entsteht typische Ingels-Architektur: Riesige Betonquader werden versetzt gestapelt, um Zwischenräume für weitläufige Glasflächen zu schaffen. Egal, in welche Richtung man schaut, jeder Ausblick ist spektakulär. Die geplante Kantine im Erdgeschoss wird nach Feierabend zum Café und damit auch für die Öffentlichkeit zugänglich sein.
Kopenhagen: Reich an Lebensqualität
Weitblick bietet auch der Aufstieg auf die Müllverbrennungsanlage "Amager Bakke", die die Stadt mit Fernwärme versorgt. Etwa achtzig Prozent der benötigten Energie wird hier erzeugt und sie stellt einen wichtigen Baustein zur geplanten Klimaneutralität im Jahr 2025 dar. Die Anlage wäre kein typisches Projekt von BIG ohne den gesellschaftlichen Mehrwert. Denn das abschüssig geplante Dach ist zugleich zur einzigen Skipiste Dänemarks avanciert. Ganzjährig lässt sich auf dem Kunstrasen von "CopenHill" der perfekte Stemmschwung proben. Wahlweise bringen Lifte oder ein gläserner Aufzug die Besucher:innen zum Gipfel, aber Marc Lichtes Sportlerherz wählt den pulstreibenden Weg über die unzähligen Stufen, um die gut achtzig Höhenmeter zu überwinden. "Die Anstrengung lohnt sich", findet er und nimmt von hier oben schon das nächste Ziel in seiner Traumstadt ins Visier.
Kopenhagen: City-Tipps von Marc Lichte
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Bredgade 28 B
brdr-kruger.com
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