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Ercol

Wer an Hersteller von Möbeln denkt, wird nicht unbedingt England im Sinn haben. Und wer an Design denkt, nicht dort in der tiefsten Provinz suchen. Ein Fehler. Unweit von London schreibt Ercol mit genau dieser Kombination Erfolgsgeschichte.
Text Jan van Rossem
Datum13.02.2020
©Robertino Nikolic

Natürlich wird, wer den Londoner Bahnhof St Pancras für eine gut einstündige rumpelige Zugfahrt in leicht nordwestlicher Richtung verlässt, damit rechnen, in the middle of nowhere zu landen. Wer dann in Princes Risborough aussteigt, einem Ort, der nur mit fortgeschrittenem englischen Zungenschlag flüssig artikulierbar ist, wird dennoch in mehrfacher Hinsicht überrascht sein. Erstens weil ein öffentliches Verkehrs- mittel sich kurz vor Oxford die Mühe macht, einen regulären Stopp einzulegen. Die überschaubare Ansammlung von Häusern macht eine solche Maßnahme nicht unbedingt zwingend. Zweitens weil es hier mal eine Bahnhofsgaststätte gab. Die Überflüssigkeit dieser Institution hat wohl auch der ehemalige Betreiber vor ziemlich langer Zeit eingesehen und seine Konsequenz mittels endgültiger Schließung gezogen – obwohl Pubs auf der Insel doch eigentlich eine sichere Bank sind. Und drittens weil ausgerechnet von hier angesagtes englisches Möbeldesign stammen soll.

Das tut es aber. Typisch englische Kauzigkeit, könnte man meinen. Aber es ist quasi die natürliche Heimat Vater ist Rahmenbauer. Er beliefert unter anderem die Uffizien in Florenz. Trotzdem siedelt die Familie mit dem damals achtjährigen Lucian nach London über. Gestaltung und die Arbeit mit Holz scheint Ercolani im Blut zu liegen. 1920 gründet er eine Möbelmanufaktur, der er seinen – entitalianisierten – Namen gibt.

"WIR HATTEN SCHON GANZE FAMILIEN AUF EINMAL BEI UNS"
Henri Tadros

Der wirtschaftliche Erfolg stellt sich schnell ein. Ercol setzt auf brauchbares, gut verarbeitetes Mobiliar. Damit macht man sich einen Namen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als England im wahrsten Sinne dringend wieder aufgemöbelt werden muss, die finanziellen Mittel aber knapp sind, bittet die Regierung Ercolani um ein mittleres Wunder. Einen Stuhl für jedermann, den sich auch jedermann leisten kann. Nach kurzer Bedenkzeit und einem knappen Jahr Entwicklung für neue Maschinen präsentiert der Firmenchef den „50 Pence Chair“. In Zeiten, als ein guter Stuhl zehn Pfund kostete.

Das Unternehmen wächst stetig und schnell. Zeitweise sind 800 Mitarbeiter angestellt, „bevor CNC-Maschinen die Arbeit präziser und rationeller übernommen haben“, sagt Henri Tadros, 31, seit 2011 in der Firma und seit Kurzem in leitender Funktion tätig. Er ist die vierte Generation. Vater Edward ist als Chair- man noch mit wachsamen Augen dabei.

"UNSER TREUESTER MITARBEITER IST HIER SEIT 53 JAHREN BESCHÄFTIGT"
Edward Tadros

Ercol versteht sich als Familienbetrieb – in mehrfacher Hinsicht. „Es gibt Mitarbeiter, die seit 53 Jahren hier tätig sind“, berichtet Tadros stolz. Die haben auch 2002 den Umzug nach Princes Risborough mitgemacht, in die modernen Werkshallen. „Es kommt nicht selten vor, dass wir mehrere Familienmitglieder gleichzeitig beschäftigen“, freut sich der junge Firmenchef über deren intensive Verbundenheit mit seinem Unternehmen. Stellen werden oft quasi von Generation zu Generation weitergegeben. Natürlich nicht in offizieller Erbfolge.

Heute arbeiten in Princes Risborough rund 200 Mitarbeiter an zahlreichen Modellen, die zum Großteil für den traditionell geprägten britischen Markt ausgelegt sind. „Seit knapp zehn Jahren wendet sich Ercol allerdings auch stärker internationalen Absatzmöglichkeiten zu“, berichtet Tadros und dementiert nicht, dass dieser Strategiewechsel unter anderem mit ihm zu tun haben könnte. Die Kollektionen für beide Märkte sind strikt getrennt. In der Heimat nimmt man bei Ercol eher auf solider, massentauglicher Ware Platz, für die international angebotenen Produkte werden arrivierte Designer engagiert. Allen voran ein alter Hase, der aus unverständlichen Gründen viel zu unbekannt ist in der Szene: Matthew Hilton. Seine Entwürfe changieren mit feinem Gespür zwischen skandinavischem Möbeldesign, englischer Bodenständigkeit und hoher Handwerkskunst. Auch die junge Japanerin Tomoko Azumi, die mit ihrem Mann, einem Sammler von moderner Kunst und historischen Fahr- rädern, am östlichen Rand von London lebt, steuert mit schöner Regelmäßigkeit Modelle bei, die geprägt sind von asiatischer Konsequenz und britischem Pragmatismus.

"WIR SIND MODERN – UND STOLZ AUF UNSERE GESCHICHTE"
Henri Tadros

Der Plan scheint aufzugehen. Tadros sieht sich bereits in einer Liga mit erfolg- reichen Marken wie Carl Hansen und Gubi. Und die weltweite Designszene nimmt die Firma aus der Nord-Londoner Provinz, die mit ihren Messeständen oft noch sehr britischem Understatement folgt, durchaus wahr. Bereits 2009 hatten Ercol-Stühle einen vielbeachteten Auftritt, als der Südtiroler Designer Martino Gamper im Hof des Victoria & Albert Museums anlässlich des London Design Festivals einen doppelten Triumphbogen aus 120 „Stacking Chairs“ inszenierte.

„Wir wollen den internationalen Markt erobern“, sagt Tadros, „sind aber zugleich stolz auf unsere Geschichte und zeigen das auch.“ Fester Bestandteil des Angebots auf internationaler Bühne ist daher der „Windsor Chair“, ein Modell, das ohne Metall, also ohne Schrauben auskommt. Noch wichtiger aber: Der Stuhl ist der leicht aufgefrischte Nachfolger des legendären „50 Pence Chairs“. Selbst wenn er dessen Preis heute nicht mehr ganz halten kann.

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