Zwischen Fels und Freiheit: Georg van Gass' Glaspavillon über Johannesburg
Diese Geschichte beginnt mit einer Zeitreise
Chicago, 1945: Die Ärztzin Edith Farnsworth gibt den Bau eines Wochenendhauses bei einem befreundeten Architekten in Auftrag. Sein Name: Ludwig Mies van der Rohe. Nach drei Jahren intensiver Planung und drei Jahren Bauzeit steht 1951 ein Glasquader auf einem Parkgrundstück am Fox River in Illinois, der mit seiner Umgebung vollkommen verschmilzt. Van der Rohe schafft ein Denkmal moderner Architektur. Das „Farnsworth House“ ist ein horizontaler Bungalow auf Stelzen – mit 140 Quadratmetern verglaster Wohnfläche und zwei Terrassen. Mit Ausnahme eines zentralen Versorgungsblocks kommt das Werk ohne fixe Wände aus. Für den Architekten ist es ein „Prototyp für alle Glasbauten“. Die Kraft dieser reduzierten Gestaltung und seiner universellen Transparenz hallt sieben Jahrzehnte später noch nach, das Haus gilt bis heute als Musterbeispiel für exzellenten Purismus und minimalistische Ästhetik (und steht als „National Historic Landmarkv“ Besuchern offen).
Ruhiges Versteck zwischen Baumkronen
An diesem Punkt kommt ein südafrikanisches Ehepaar aus Westcliff ins Spiel. Auf ihrem 5600 Quadratmeter großen Familiengrundstück in dem noblen Vorort von Johannesburg sollte vor einigen Jahren eine Art hypermodernes Cottage entstehen, vom Haupthaus aus möglichst nicht einsehbar und umgeben von ursprünglicher Natur. „Die Bauherren wünschten sich eine Struktur aus Glas und Stahl“, erinnert sich Georg van Gass, Chef des Architekturbüros GASS in Johannesburg. Natürlich kam ihm dabei sofort ein leuchtendes Beispiel in den Sinn, eine Art neu interpretiertes „Farnsworth House“. Nur eben auf dem Westcliff Ridge, einem archaischen Felsrücken mit Blick auf den berühmten gigantischen Stadtwald. Mit seinem Team gestaltet van Gass seit mehr als 15 Jahren Villen und Apartments, öffentliche Plätze und Geschäftshäuser in Südafrika. Sein wichtigstes Credo: Er stellt die Menschen in den Mittelpunkt und skizziert Lösungen dicht an ihren Bedürfnissen.
Zwischen Fels und Freiheit: Der südafrikanische Denkmalschutz
Während der Planung des Pavillons galt es, einige zusätzliche Hürden zu nehmen: Der südafrikanische Denkmalschutz musste dem Bau auf dem erhöhten Untergrund erst einmal zustimmen. Danach setzte die Stadt fest, dass die Grundfläche des neuen Wohnhauses nicht mehr als 110 Quadratmeter betragen durfte. Und der Respekt gegenüber dem direkten Umfeld, der intakten Vegetation und der Tierwelt beschäftigte den Architekten schließlich besonders intensiv: „Wir wollten eine Struktur, die den Bergrücken so wenig wie möglich berührt.“ Der Bauprozess sollte nur ganz behutsam in die Natur eingreifen. „Als wir auf der Suche nach einem möglichen Standort um den Bergrücken herumgingen, wurde mir klar, dass ich das Haus auf Stelzen stellen wollte“, sagt van Gass. „Es sollte fast frei schweben.“
Behutsamer Eingriff ins Ökosystem
Der Zugang zum Areal verlief über eine lange, schmale Straße, durch mehrere Privatgrundstücke und über den bestehenden Garten. Große Baufahrzeuge hätten die Umgebung zerstört. Deshalb entwarf van Gass eine Stahlrahmenkonstruktion, die ein Subunternehmer außerhalb errichtete, der Bausatz wurde dann erst vor Ort zusammengefügt. Die Handwerker luden die Elemente von einem kleinen Lastwagen ab, der weiter oben auf dem Bergrücken parkte, und trugen sie dann von Hand bis zum Bauplatz. Die erhöhte Gebäudestruktur aus Sockeln und Säulen verringerte den Bedarf an Beton. Van Gass: „Außerdem sind so alle Versorgungseinrichtungen viel leichter zu warten. Wenn man etwa eine Steckdose und einen Abfluss hinzufügen will, reicht man einfach von der Unterseite her an alle Leitungen heran.“
In diesem Haus ist der Verkehrsraum dagegen der Hauptwohnbereich
Von der Lounge bis zum Badezimmer: Im Inneren des Pavillons ist jeder Raum so angelegt, dass die Aussicht die Hauptrolle spielt. Statt Mauerwerk sind zwischen den Stahlträgern bodentiefe Glasfenster und -türen angeordnet – so belebt das Panorama die Bewohner wie ein vibrierendes Gemälde. Den Grundriss des Kubus plante van Gass so platzsparend, dass möglichst wenig Raum mit Durchgängen oder Fluren vergeudet wird. Im Zentrum breitet sich ein großes Areal mit Wohnbereich, Kochinsel und Esstisch aus, zu zwei Seiten offen und dennoch geschützt wie eine monumentale Laube: „Viele Leute machen den Fehler und stellen die überdachte Terrasse vor ihr Wohnzimmer. Damit schotten sie sich ab, der Innenraum fühlt sich dunkel und kalt an.“ Der zentrale Wohn-, Ess- und Küchenbereich wird im Pavillon durch eine Reihe von raumhohen Glastüren auf zwei Seiten gleichzeitig umschlossen und belichtet. Damit dringt viel Licht in den Raum, gefiltert durch das umgebende Grün der Baumkronen. Dadurch wird das Haus auf eine einfache und effiziente Weise belüftet und erwärmt. Die beiden Schlafzimmer sind mit ihren Bädern auf den gegenüberliegenden Seiten des Gebäudes angeordnet. „Wenn man beide Schlafzimmer auf einer Seite hat, verliert man automatisch wertvollen Raum durch Verkehrswege“, sagt van Gass. „In diesem Haus ist der Verkehrsraum dagegen der Hauptwohnbereich.“
Detailreich auch auf kleinstem Raum
Alle Tischlerarbeiten wie die Kücheninsel, die Spülküche und die Stauraummodule wurden speziell für das Haus entworfen. Die Einbauschränke und Bücherregale rücken dabei in die Tiefe einer klug gesetzten Steinwand, die fast die Hälfte der Längsseite einnimmt. Sie besteht aus Granit, der direkt auf dem Grundstück gewonnen wurde. „So fügt sich auch das Interieur gut in die felsige Umgebung ein“, findet der Architekt. „Normalerweise hätte man den Stein für den Sockel verwendet und ihn dann mit Ziegeln überbaut“, erklärt er die ortsübliche, historisch gewachsene Herangehensweise. Georg van Gass hat diese nunmehr ganz individuell interpretiert. Sein Erfindergeist gipfelte in einer schwebenden Steinwand, die er anstelle einer konventionellen Haustür als Zeichen des Ankommens setzte. Sie wird von einem Stahlträger und einem Rahmen gehalten. Sie scheint einen halben Meter über dem Boden zu schweben – wie eine schwerelose und markante Skulptur. Die Natur begegnet den Bewohnern in durchdachten, eleganten Details. In den Badezimmern und auf der abgehängten Außenterrasse sind die Zwischenräume zwischen den Teakholzdielen größer als in den Wohn- und Schlafräumen, damit das Wasser besser abfließen kann. Alles erscheint bis in den letzten Winkel äußerst schlüssig.
Georg van Gass: Die Verschmelzung von Bauwerk und Umfeld gelang
Edith Farnsworth gefiel das Haus, das sie vor 70 Jahren in Auftrag gegeben hatte, überhaupt nicht. Nicht einmal einen Kleiderbügel könne sie hier aufhängen, ohne die Ästhetik zu stören, soll sie gesagt haben. Ihre Freundschaft zu Ludwig Mies van der Rohe kühlte ab, es kam zum Rechtsstreit, 1972 schließlich trennte sie sich von dem Gebäude. Ganz anders die Eigentümer des Westcliff Pavillons. Sie erkannten, dass van Gass mit seinem Meisterwerk etwas geschafft hat, was nur wenigen Architekten gelingt: Es lenkt den Fokus von sich weg und richtet die Konzentration auf die unmittelbare Umgebung. „Meiner Meinung nach werden heute viel zu viele Gebäude entworfen, die nach Aufmerksamkeit schreien, anstatt sie sich zu verdienen“, äußerste der Johannesburger Architekt einmal in einem Interview zum Westcliff Pavillon. Die Verschmelzung von Bauwerk und Umfeld gelang, weil van Gass das Weniger-ist-mehr-Prinzip Mies van der Rohes an den südafrikanischen Kontext angepasst hat: „Wir wollten ein zeitloses Stück Architektur schaffen. Wir ließen uns ganz vom Ort leiten und kämpften nicht gegen die Umgebung an.“ Etwas Besseres lässt sich über wegweisende Architektur heutzutage kaum sagen.