Göttliches Gemäuer: So wohnt Innenarchitektin Judith Hillebrand
Die Kirche war noch gar nicht im Dorf, da hatte sich der Bischof schon das beste Plätzchen ausgesucht. 1220 wird der Kirchturm von St. Vincentius erstmals urkundlich erwähnt. Da stand schon ein spätgotischer Massivbau auf dem angrenzenden Grundstück der Gemeinde Hattenheim, die heute in das bekannte Weinörtchen Eltville eingemeindet ist. Die obersten Vertreter der Kirche nutzten es gern zur Sommerfrische. Beste Lage. Nicht nur für den Wein. Die Bezeichnung "Ferienhaus" könnte allerdings in die Irre führen: Beim Greiffenclauer Hof handelt es sich um ein Anwesen mit insgesamt 680 Quadratmetern Lebensfläche.
Judith Hillebrand, Halbitalienerin mütterlicherseits, gebürtige Mainzerin, ist Genießerin und deshalb gern mit Ehemann Christoph in Hattenheim. Hier wimmelt es von guten und gemütlichen Restaurants und Wirtshäusern. Irgendwann einmal, nach ein paar Gläschen Wein und ein paar zufälligen Pläuschchen, wird ihnen das Ex-Anwesen des Bischofs angeboten, was sie nach kurzer Ansicht auf keinen Fall abschlagen können. Der Beginn eines Traums – und eines Albtraums. Der Hof wurde als Garagenhof zweckentfremdet, „so scheußliche 60er-Jahre-Boxen“, gruselt sich Judith. Das Hauptgebäude ist in unzählige kleine Zimmer zerstückelt, der Wirtschaftstrakt heruntergekommen und hinter jeder Umbaumaßnahme steht das Amt für Denkmalschutz mit erhobenem Zeigefinger. Und das sogar hinter den scheußlichen Garagen.
Macht aber nichts, denkt die umtriebige Innenarchitektin und beginnt ihr Masterpiece. Fünf Jahre wird sie damit beschäftigt sein. Ganz fertig ist man mit einem solchen Projekt ohnehin nie. Ihre wichtigste Idee: Die riesige Wohnfläche auf unterschiedlichen Ebenen und Halbebenen so miteinander zu verbinden, dass sich die dreiköpfige Familie nicht verloren geht. Den pubertierenden Sohn könnte man zwar weitgehend akustisch orten, so er denn gerade sein Schlagzeugspiel praktiziert, aber die Chance, sich aus dem Weg zu gehen, ist größer, als sich zufällig zu treffen.
Zwei Räume hat sie geschaffen, die die professionelle Planerin Judith Hillebrand als „Gelenke“ bezeichnet: Die ehemalige Halle zum Weinkeltern, die jetzt die offene Verbindung vom Haupthaus zum rechtwinklig angrenzenden Wirtschaftstrakt bildet. In dem befindet sich die Küche, die in ihren Ausmaßen und ihrer Ausstattung eine eigene Geschichte wert wäre. Das zweite Gelenk ist der Wintergarten vor der Küche, die Verbindung von Haus und Hof. Praktischerweise sind beide Gelenke direkt miteinander verbunden, was die Orientierung erleichtert und eine logische Abfolge der Lebensbereiche ermöglicht.
"Die Treppen sind das Geheimnis. Sie weisen den Weg durch das alte Palais. Und fügen sich in die alte Bausubstanz"
Wesentliches Element des Umbaus und der Neustrukturierung sind die Treppen. Sie müssen nicht nur die Höhenunterschiede überbrücken, die sich im Laufe der Jahrhunderte durch Anbauten und Durchbrüche ergeben haben: „Sie sollen vor allem Richtungen vorgeben und Bewegung ins Interieur bringen“, erklärt Judith Hillebrand. Deshalb sind sie selten gerade von Raum zu Raum geplant, sondern führen schräg oder kurvig in das Nachbarzimmer, idealerweise gleich dorthin, wo sich das Leben abspielt. Von der Küche ein paar Stufen und eine Rechtskurve hinab in Richtung Esstisch, quasi der Meetingpoint des Anwesens. Oder vom Kaminzimmer hinunter direkt vor die verspiegelte Bar, die im „Gelenkraum“ noch einmal tiefer gelegt ist vor die alten Türen des Weinkellers.
Die Räume, einschließlich Jugendzimmer, sind großzügig bedacht mit Designklassikern – das Anwesen würde auch als Showroom für Vintage-Möbel funktionieren. Trotz der Fülle großer Namen läuft niemand Gefahr, die diversen Polstermöbel zu übersehen, deren eigentümliche Bezugsstoffe ins Auge fallen. Weich und flauschig, haben sie doch etwas Kerniges, fast ein bisschen Struppiges. Diebische Freude verraten die leuchtenden Augen der Innenarchitektin, weil niemand den Stoff identifizieren kann. Dabei kennt ihn jeder. Jeder, der mal ein Steiff-Tier im Arm hatte. Deren „Felle“ kauft Judith Hillebrand meterweise ein und verkleidet damit auch mutig manchen Designklassiker, wie ihre Sessel von Tecta aus den Sechzigern. „Der Stoff ist gemütlich, trotzdem extrem robust“, erklärt die Erfinderin dieses Styles. Klar, Teddybären müssen einiges aushalten können. Weiß jedes Kind. Als augenzwinkernder Hinweis stehen zwei übermannshohe Giraffen des Stofftier-Labels in Wintergarten und Kaminzimmer.
"Die Küche ist das Herz des Hauses. Hier passiert alles gleichzeitig: Kochen, Trinken, Schularbeiten, Livemusik"
Um die kammerartigen Zimmer des Bischofs großzügiger zu gestalten, mussten einige massive Steinwände entfernt werden. Die 80 Zentimeter dicken Außenwände blieben natürlich unberührt, bis auf die neuen „mundgekauten“ Fensterrahmen. Nicht erschrecken, das ist hessische Mundart für handgefertigt. Trotz der geopferten Mauern blieb genug Wandfläche für die Kunst. Da begegnet man schon mal einem Tiger von Andy Warhol. Vor allem aber fallen Werke eines Lieblingskünstlers von Hillebrand auf. Sein Name: Marlon Wobst. Seinen Stil, vielmehr sein Sujet, würde man vielleicht am ehesten als „sexy“ bezeichnen können. „Akte in Filz“ hängen über den beiden Betten (für jeden Ehepartner ein King-Size-Format). Und wo sich Stellplatz findet – also nicht selten –, trifft man auf unterschiedlich große Glocken aus Glas. Darin befinden sich Beispiele aus dem Zyklus „Kamasutra unter Glocken“, ebenfalls von Marlon Wobst. Das sind geknetete Liebesakte in akrobatischen Stellungen. „Ist doch ganz anregend“, findet Judith Hillebrand mit einem Zwinkern.