Luis Barragáns Vermächtnis
Niemand vor und nach dem Star-Architekten Luis Barragán hat es verstanden, die mexikanische Baukunst so grandios in Szene zu setzen. Heute werden seine Häuser als Museen der Ö entlichkeit zugeführt. Bis auf eines mitten in Mexico-City – das wird privat bewohnt
Es ist verdammt leicht, an diesem Juwel der Architekturgeschichte achtlos vorbeizurauschen. Der Stadtteil Pedregal im südlichen Teil des sehr erweiterten Innenstadtbereichs von Mexico-City gehört zwar zu den gehobeneren Wohngegenden der Stadt, trotzdem reizt es nicht besonders, beim Durchfahren ohne Grund die Geschwindigkeit zu drosseln. Genauer gesagt würden sich – mit Ausnahme der Bewohner – nicht viele ohne Grund hierher begeben. Aber es gibt einen, einen besonders guten sogar, und das ist ebenjenes Juwel, das sich hinter hohen Mauern versteckt.
Ein monotones Plopp, Plopp, Plopp dringt durch die Mauer auf die Straße. Plötzlich nimmt es Fahrt auf, wird schneller, stoppt – nach einem Moment atemloser Stille ertönt ein schmatzen- des Geräusch, von Jubelbekundungen begleitet. Kurz danach öffnet sich die schwere Holztür und gibt des Rätsels Lösung preis: Der Hausherr war beschäftigt mit einer Partie Basketball gegen seinen Sohn – eins gegen eins. Die Besucher mussten warten, bis einer der beiden einen Korb geworfen hat.
"DIESES HAUS IST DAS EINZIGE BARRAGÁN-WERK, DAS JE DEN BESITZER GEWECHSELT HAT"
In der nächsten Sekunde schlüpft Cesar Cervantes in die Rolle des kundigen Gastgebers, dem man bei jedem Satz anmerkt, dass er sich sehr wohl bewusst ist, nicht nur ein wunderbares Anwesen erworben zu haben, sondern eine Ikone der Architekturgeschichte. Dabei handelt es sich um ein Frühstwerk der mexikanischen Architektenlegende Luis Barragán. Der hatte in seinen großzügigen und großartigen Entwürfen, mit denen er Raum, Farbe, Natur und Material zu einer mystischen Gesamtperformance vereinigte, den Hausbau in Mexiko einer neuen Dimension zugeführt. Wobei der Begriff Hausbau eher eine unzulässige Missachtung seines Werkes ist.
Cesar Cervantes bittet hinein. Direkt hinter dem Eingang: Leere und Weite, die über eine mehrere Meter breite, von Wand zu Wand reichende Treppe durchschritten wird. „Das war Barragáns Definition von Luxus“, erklärt Cervantes, während er gemessenen Schrittes die Stufen nimmt. „Viel Raum um nichts.“ Die Treppe führt in den zentralen Wohnraum, in dem sich zwei Sitzgruppen mit ausladenden gemütlichen Sofas, Plätze vor dem Kamin, ein Flügel und eine reich bestückte Bar fast verlieren.
Der Raumeindruck ist überwältigend und wird durch die bodentiefen Fenster an drei Seiten, die wie riesige Monitore die umgebende Natur zeigen, dramatisch verstärkt. Wir überspringen an dieser Stelle mal die Erwähnung des obligatorischen Begrüßungs-Mescals und lauschen den Ausführungen des Hausbesitzers. „Das Gebäude stand zehn Jahre lang zum Verkauf, es ist das einzige Barragán-Werk, das je den Besitzer gewechselt hat.“ Bei jedem Wort, jedem Detail schwingen Ehrfurcht und Mystik mit, die Bau und Baumeister umwehen. „90 Prozent der Einrichtung gehören zum Haus, der Rest sind Sachen, die mit Barragán zu tun haben.“ Sie stammen aus anderen Häusern und von befreundeten Designern
"VIEL RAUM, VIEL LUFT – DAS WAR LUIS BARRAGÁNS VORSTELLUNG VON LUXUS"
„Als ich von dem Angebot erfuhr, begann ich, mich intensiver mit Luis Barragán zu beschäftigen. Er startete seine Bautätigkeit 1945. Dieses Haus ist eines seiner ersten, es wurde 1951 fertiggestellt. Die Bewohner haben gut 60 Jahre darin gelebt.“ Und während des Rundgangs lenkt Cervantes den Blick auf die Wände, genauer auf die Farben: gedeckte Grau-, Grün- und Blautöne. „Die sind wieder ganz nah am Originalzustand. Den Vorbesitzern war das Ganze zu dunkel. Sie haben alles weiß gestrichen. Ich bin in Archive gegangen, habe noch einen Ingenieur ausfindig gemacht, der damals am Hausbau beteiligt war, und die Originalfarben wiederhergestellt.“ Bei seinen Forschungen entdeckte Cervantes, wie sehr Barragán zu Beginn seiner Karriere von Ideen der europäischen Architekten des Bauhauses und der Farbpalette Le Corbusiers inspiriert worden war.
Cesar Cervantes würde bei jedem zweiten Jesus-Lookalike-Contest mindestens ins Finale vorrücken. Seine beeindruckende gut und gern dreistellige Sammlung handgefertigter Ledersandalen, die etwa ein halbes der zahlreichen Schlafzimmer in Beschlag nehmen, unterstreichen den Eindruck vehement. Mit leiser, etwas heiserer Stimme erzählt er zwischendurch von sich. Der heute 48-Jährige war einer der erfolgreichsten Kunsthändler Mexikos, nachdem er seinen eigentlichen Traum, selbst Künstler zu werden, in einem sehr frühen Stadium seines Studiums aufgeben musste. Nicht unbedingt wegen mangelnden Talents, aber die Eltern hatten andere Pläne mit ihm. Also nutzte er sein Wirtschaftsstudium, um der Kunst weiterhin nahe zu sein. „In den letzten Jahren ist mir der Betrieb aber zu verrückt geworden. Die Preise sind übertrieben, es gibt nur noch Partys, die Künstler werden wie Popstars herumgereicht.“ Er zog sich aus dem Geschäft zurück, verkaufte seine Sammlung und investierte Geld und Zeit in dieses Anwesen. Sein laufendes Einkommen stammt aus einer Beteiligung an der erfolgreichen Imbisskette Taco Inn.
"BARRAGÁN ENTWARF EIGENTLICH GÄRTEN – MIT EINEM HAUS DAZU"
Besonders wichtiger Teil seines Hauses ist der Garten mit üppiger Bepflanzung um eine großzüge Wiese herum, einem Natursteinpark und einem so türkis schimmernden Pool, dass er vor dem Hintergrund der erdroten Hauswände wie ein Passepartout für eine Bilderserie von David Hockney aussieht. „Luis Barragán entwarf ja eigentlich eher Gärten mit einem Haus dazu“, erklärt Cesar Cervantes. Kein Schmunzeln.
In jedem Detail steckt Sinnlichkeit. „Der Architekt liebte Partys, Frauen, Schönheit, aber auch diskretere Freuden wie Literatur und Musik.“ Während Cesar Cervantes zunehmend enthusiastisch über Luis Barragán berichtet, wächst der Verdacht, dass er auch sich selbst beschreibt. Vielleicht haben die Jahre in dem Haus und der Beschäftigung damit eine gewisse Annäherung beider Charaktere bewirkt – als würde der neue Besitzer ganz im Geiste des Baumeisters die Seele der Mauern spüren und bewahren. „Je länger ich hier lebe, desto größer wird die Verantwortung diesem Anwesen gegenüber – und meine Freude, hier zu leben.“ Das feiert er gern mit rauschenden Festen. Auch diesbezüglich ist der Hausherr nahe beim Baumeister.
Kunst sucht man an den Wänden übrigens vergebens. Nicht weil der ehemalige Kunsthändler Bildern jetzt generell abgeschworen hätte: „Ich wollte keinen Wettkampf. Die Wände sind Kunst genug.“ Nur ein Kunststück lässt er zu, dagegen kann er sich nicht wehren: „Barragán hatte einen Sinn für Dramatik: Die ersten Sonnenstrahlen am Morgen treffen durch das Fenster genau in die Mitte des Kamins. Wie ein himmlisches Zeichen.“ Dass die Strahlen exakt über die Mittellinie des Olympiastadions führen, konnte der große Barragán aber nicht berechnen. Das wurde erst knapp 20 Jahre später erbaut.