John Lautners "Silvertop" in Los Angeles – ein wahrgewordener kalifornischer Traum
Häuser erzählen Geschichten. Lange hat man das eher mit schottischen Schlössern oder Gründerzeitvillen verbunden. Doch auch die moderne Architektur ist reich an faszinierenden Stoffen. So wie das Haus mit dem Namen "Silvertop" in Los Angeles: Es steckt voller Zeitgeschichte sowie Technik und bahnbrechender Innovationen. Es berichtet uns von rastlosem Unternehmergeist, Reichtum, Bankrott und vor allem von der Vitalität des ständigen Neubeginns.
Der Architekt John Lautner wurde im Jahr 1956 angefragt, die "Reiner Residence" zu planen. Lautner, damals 45 Jahre alt, war ein Schüler von Frank Lloyd Wright und hatte sich in der Region Los Angeles mit außergewöhnlichen und technisch ambitionierten Wohnhäusern einen Namen gemacht. Das gefiel Auftraggeber Kenneth Reiner, einem kalifornischen Ingenieur, der durch Patente zu Wohlstand gekommen war. Reiners erstes Patent betraf selbstsichernde Flugzeugmuttern, die in der Rüstungsindustrie des Zweiten Weltkriegs eine bedeutende Rolle gespielt hatten. Das andere war in Friedenszeiten ein durchschlagender Erfolg: doppelzackige Haarclips für Frauen. Unter dem Markennamen Lady Ellen Klippies hatten sie zeitweise einen Marktanteil von neunzig Prozent. Vier Jahre zuvor hatte der Disney-Zeichner Carl Barks die Comicfigur Gyro Gearloose (deutsch: Daniel Düsentrieb) erfunden. Kenneth Reiners Tüfteleien passten gut in den Zeitgeist und füllten seine Kassen wie beim reichen Onkel Dagobert.
Von seinem Architekten wünschte sich der Ingenieur ein Wohnhaus für seine Familie im Stadtteil Silver Lake. Es sollte allerdings kein konventionelles Gebäude werden, sondern zugleich ein Forschungshaus, an dem neue Techniken und Materialien erprobt werden konnten. "Es entstand eines der technisch und strukturell innovativsten Häuser der Welt. Es ist ein Meilenstein in der Entwicklung des architektonischen Designs sowohl in Los Angeles als auch international", sagt die Architektin Barbara Bestor, die die Ikone im Jahr 2014 umfassend renovierte.
Ein Fiasko vor dem geplanten Einzug
Für Kenneth Reiner ging die Sache nicht gut aus. Die Baukosten stiegen von geplanten 75 000 auf Wohnen Los Angeles fast eine Million Dollar. Erschwerend kam hinzu, dass der Unternehmer zeitgleich in geschäftliche Auseinandersetzungen verwickelt war. Das führte zur Pleite, zusätzlich beschleunigt durch eine kostspielige Scheidung. Um sein Geld gebracht, konnte Reiner sein Traumhaus nie beziehen und kam somit nicht in den Genuss von Lautners genialer Architektur und seiner darin eingebauten Erfindungen. Der schillernde Ingenieur konnte weder im ersten Infinitypool der modernen Architekturgeschichte schwimmen noch den versenk-baren Esstisch hinauf- oder herunterfahren. Es blieb ihm verwehrt, die gebogene Fensterfront zu öffnen oder auch die raffinierten Waschbecken im Betrieb zu erleben. Diese füllen sich ganz ohne Armaturen automatisch mit Wasser. "Reiner entwickelte für das Haus auch Scheuerleisten mit Tastplatten, die Steckdosen vor seinen drei Kindern verstecken sollten, sowie schwenkbare Leuchten, die in der Decke verschwanden, und elektrisch gesteuerte Blenden für die Oberlichter", erinnerte sich John Lautner später. "In dem Haus gab es nicht eine einzige Komponente, die als Lagerware erhältlich gewesen wäre."
Als herausragend gilt ein Belüftungs- und Heizsystem, das die Luft unter der Bodenplatte zirkulieren ließ und sie sanft am Rand des Raumes wieder abgab. Reiner erfand dieses System, so erinnerte sich einer der Projektarchitekten, weil er den Luftzug der Klimaanlage im Haus nicht mochte: "Er wollte einfach nur die Temperaturveränderungen spüren." Ab 1964 stand das Haus zunächst für rund zehn Jahre leer, bis es 1974 der Internist Philip Burchill und seine Frau Jacklyn erwarben. Sie baten John Lautner zunächst, weitere Änderungen vorzunehmen. Zwei Jahre später bezog das Paar das nun in "Reiner-Burchill Residence" umbenannte Anwesen mit drei Schlaf- und vier Badezimmern auf 700 Quadratmetern Wohnfläche.
Schwebender Beton in der Hügellandschaft
Für den 1994 verstorbenen John Lautner war das Haus nicht nur wegen der revolutionären Tech-nik ein Meilenstein in seinem architektonischen Schaffen. Es war das erste von vielen Gebäuden, bei dem Lautner Beton als stilbildendes Material für seine Räume mit fließenden Linien und Flächen nutzte. Der komplexe Grundriss erinnert an einen dreiflügeligen Propeller, dessen Blätter sich von der Hügelkuppe jeweils abwärts entwickeln. Mittig ist ein begrüntes Atrium angelegt. Der Südflügel wird von einem 25 Meter hohen Spannbetondach überwölbt. Dessen Hügelform findet sich auch im Grundriss des Gästehauses, im Pool und in der spektakulären Auffahrt wieder. Es ist eine freitragende Brücke, die durch einen Pf lanz-tunnel hindurchführt. In sanften Windungen zieht sie sich rund hundert Meter den Hang hinauf und zeugt von Lautners Idee, das Haus in die Topografie hineinzuschmiegen. Dem gleichen Geist entspringt die große, wellige Fensterfront, die den größtmög-lichen Naturbezug herstellt, sowie der Pool, der beim Betrachten die optische Täuschung eines nahtlosen Übergangs zum Silver Lake bietet. Das Ganze wird gekrönt von einem kleinen Aussichtsturm, der auf einer Plattform mit mandelförmigen Grundriss fußt.
Neuer Feinschliff für eine Ikone
Als das Haus 2014 verkauft wurde, ging es erneut an einen kalifornischen Unternehmer: Luke Wood, Ex-Musiker und Vorstand der Kopf hörermarke Beats, dessen Firma kurz zuvor für drei Milliarden Dollar an Apple verkauft worden war. Barbara Bestor modernisierte das Haus für Wood behutsam. Sie reparierte die Anbauten aus den späten Siebzigerjahren und rekonstruierte einen Großteil der experimentellen Technik. Viele der Aktualisierungen sind auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Die mechanischen Elemente wurden überarbeitet und digitalisiert, die Beleuchtungssysteme verbessert, sodass sie heutigen Effizienzstandards entsprechen. Die Küche, die vor 50 Jahren im Geist der Seventies umgebaut worden war, entspricht heute wieder mehr dem ursprünglichen Design. Dazu gehören ein offener Grundriss, vertikal ausgerichtete Zypressenpaneele und die Wiederherstellung des Essbereichs.
"In dem Haus gab es keine einzige Komponente, die als Lagerware erhältlich gewesen wäre."
Vervollständigt werden die diskreten Einbauten durch ein renoviertes Hauptbadezimmer mit versenkbaren Glaspaneelen, maßgefertigtem Terrazzo auf der Terrasse und in den Badezimmern sowie die Reparatur und Ergänzung der Decken-Korkverkleidung in ausgesuchten Bereichen. Ideengeber Kenneth Reiner war nach seiner Pleite und dem erzwungenen Verkauf keineswegs ein gebrochener Mann. Mit seiner zweiten Ehefrau Dottie wagte er in Long Beach einen Neuanfang. Seine Firma Kayline Enterprises produzierte Kosmetik- und Friseurbedarf und konnte an frühere wirtschaftliche Erfolge anschließen.