AW Designer des Jahres
AW Designer des Jahres

AW Designer des Jahres 2016: Jasper Morrison

„Less is more" heißt das Credo von Jasper Morrison. Seine Designs sind auf das Wesentliche reduziert, seine Ästhetik vom Bauhaus inspiriert und von Dieter Rams und der japanischen Kultur beeinflusst. AW Architektur und Wohnen kürt ihn zum "AW Designer des Jahres 2016". 
Datum20.01.2020

Vor 30 Jahren hat Jasper Morrison sein Studio in London gegründet und seither mehr als 600 Produkte für internationale Hersteller gestaltet. Zu seinem Jubiläum ehren wir Jasper Morrison als "AW Designer des Jahres 2016". Er ist der Zwanzigste.

Shoreditch. Das hippe Szeneviertel im Londoner Osten. Hier in der Kingsland Road 24 b hat Jasper Morrison sein Studio und führt einen eigenen Designshop. Auf dem Weg dorthin, vom Hotel in der Hackney Road, auf knapp zwei Kilometern zwei Dutzend indische (oder pakistanische) Läden, die alle das gleiche verkaufen: Lederschuhe, Ledertaschen, Lederrucksäcke, Lederkoffer – das Design bekannter Marken schimmert als missglückte Imitation durch, keine Kopien. Zwischen dieser merkwürdigen Ansammlung von Gleichem kleine Bars und Cafés in den lädierten Häuserreihen: Multikulti-Ambiente. Und gerade deswegen beliebt bei Kunstschaffenden und Kreativen aller Art.

Zwischen Polski Sklep, einem wirklich kleinen Minimarkt, und Red Planet, einer etwas größeren Pizza-Station, glänzt unter einer roten Hausfassade ein schwarz gestrichenes Tor mit dezenter Sprechanlage in Edelstahl, das zwischen dem Ladengewimmel mit schrei-bunten Werbeschildern wie der Zugang zu einer anderen Welt anmutet. Und so ist es auch. Hinter diesem Tor, wo der Schlitz des Edelstahlbriefkastens rechtwinklig zum Türschild angeordnet ist und die Hausnummer in der Schrifttype Helvetica grafisch perfekt die Linien zu beiden hält, herrscht eine leise Ordnung, fast meditative Stimmung.

Jasper Morrison hat den heruntergekommenen Gebäudeteil im Hinterhof vor neun Jahren gekauft und mit dem befreundeten Architekten Harry Gugger aus der Schweiz, vormals Partner bei Herzog & de Meuron, umgebaut. „Es war seine Idee, einen neuen Baukörper zwischen die umstehenden, verschachtelten Häuser zu setzen“, erklärt Jasper Morrison in der ihm typischen Bescheidenheit. Das längliche Haus ist zweigeteilt, beherbergt zum einen sein Studio, in dem Schreibtische mit vier bis sechs Computer-Arbeitsplätzen stehen. Eine offene Küche und eine Besprechungsecke mit Kamin und Bücherwand, an der auch Gäste oder Kunden bewirtet werden, geben dem ganzen Raum eine moderne, wohnliche Arbeitsatmosphäre. Der Designshop erstreckt sich auf der anderen Seite des Hauses, in ihm kann man (auf Anmeldung) nicht nur viele seiner Entwürfe direkt kaufen, sondern auch Dinge, die er auf seinen Reisen entdeckt, für gut befindet, eine gewisse Menge kauft – und weiterverkauft. „Oder ich behalte sie“, schmunzelt er. Die Produkte sind akkurat geordnet. Schon das Arrangieren in Regalen zeigt: Jasper Morrison ist ein Ästhet. Da hängen schlichte Küchenutensilien wie Sieb, Schöpf- und Holzlöffel neben ganz filigran geknüpften japanischen Sitzkissen aus Bambus; es stehen elegante, dünne weiße Porzellanschalen neben einem handschmeichelnden Holztablett – und dazwischen auch mal ein schlichter hellblauer Kunststoffeimer oder eine rote Gießkanne.

Seit 2011 betreibt er den Designshop auch im Internet. Es ist ein Supermarkt der schlichten, praktischen, urfunktionalen Dinge mit besonderer Aura – eine Art Fundstelle für das Beste, was das internationale Alltagsdesign bietet, ob No- Name oder von bekannten Gestaltern.

Im jaspermorrisonshop.com gibt es natürlich auch Designbücher zu kaufen, neben anderen auch die, welche er selbst geschrieben hat: Etwa „A World Without Words“, „A Book of Spoons“, „Everything but the Walls“, „A Book of Things“, „The Good Life“ oder „Super Normal – Sensation of the Ordinary“, das er zusammen mit dem japanischen Designer Naoto Fukasawa als Begleitkatalog zur gleichnamigen Ausstellung 2006 in Tokio veröffentlichte und das wie ein Manifest für gute Gestaltung gefeiert wird.

Jasper Morrison, geboren 1959 in London und in New York aufgewachsen, wird früh mit einer reduzierten Formensprache vertraut. Sir Terence Conran, der Interiordesigner und Gründer der Einrichtungsmarke Habitat, ist sein Onkel. Und Habitat-Möbel und -Accessoires waren klar, modern, reduziert – ab Mitte der 60er-Jahre eine Gegenwelt zum verschmockten Brit Style. „He was very present in my life!“, sagt Jasper Morrison über Conran. Er war ihm Inspirator und Leitfigur, aber nicht Wegbereiter. Den Entschluss, Architekt oder Designer zu werden, beförderte vor allem eine Ausstellung über Eileen Gray im Victoria and Albert Museum in London.

Morrison studierte ab 1982 am Royal College of Art London und an der HdK Berlin. Die Formensprache von Nick Roericht (z.B. das Stapelgeschirr „TC 100“), seinem Professor, beeinflusste ihn ebenso wie das Gedankengut von Bauhaus – und das von Dieter Rams. Dessen Gestaltungscredo „Weniger, aber besser“ überzeugt Morrison, bis heute. Schon 1986 gründet er in London sein erstes Designstudio. „In England gab es aber keine Firma, die Industriedesigner brauchte“, erklärt er, „deshalb begann ich wie Ron Arad und Tom Dixon, Dinge selbst zu schrauben.“ Die ersten, die auf seine Arbeiten aufmerksam wurden, waren Sheridan Coakley (SCP, die englische Marke, für die Morrison immer noch entwirft) und der Londoner Galerist für zeitgenössische Möbel Zeev Aram. Bei ihm sah Giulio Cappellini, der Avantgarde-Möbelproduzent aus Italien, den Sessel aus gebogenen Stahlrohren mit runden Abstellflächen am Ende der Armlehnen, den Morrison erst „The Drinking Man’s Chair“ nennen wollte. Angeregt durch den Werbeslogan „The Thinking Man’s Smoke“, den er in einem Tabakgeschäft entdeckte, änderte Jasper den Namen in „The Thinking Man’s Chair“. Dieser Entwurf ist wohl sein bekanntester; er steht im Vitra Design Museum ebenso wie im New Yorker MoMa und allen anderen relevanten Designinstitutionen. Bei Cappellini ist er noch immer in der Kollektion. Und aufmerksame A&W-Leser entdecken ihn in vielen Wohnreportagen.

Wie er auf die Idee zu diesem Entwurf kam, der in seiner Expression eigentlich gar nicht zu seiner sonstigen eher minimalistischen Formensprache zu passen scheint, erklärt Morrison so: „Ich bin neugierig, halte die Augen auf meinen vielen Reisen offen und fotografiere auch, was mir an Außergewöhnlichem auffällt. Ich sah also damals einen antiken Sessel, der ohne Polster, nur noch als Holzskelett, vor einem Geschäft stand. Das sah so interessant aus, dass es mich zu einem Stuhl aus purer Struktur inspirierte.“ Der markante Stahlrohrsessel könnte auch seinetwegen heißen, wie er heißt – Morrison ist ein Denker, ein tiefgründiger. Schon seine Haltung, seine Kleidung, sein überlegtes, leises Sprechen zeugen von einem ernsthaften Charakter, dem Schnörkel zuwider sind.

Im Jahr 1989 gündet Morrison mit Andreas Brandolini und Axel Kufus das Büro für Ausstellungsdesign und Stadtplanung „Utilism International“. Für das künstlerische „Busstops“-Projekt in Hannover gestaltet Jasper eine ebenso schlichte wie bis heute funktionale Haltestelle. Sie ist der Grund, weshalb er von der hannoverschen Transportgesellschaft Üstra auch den Auftrag zur Gestaltung der neuen Stadtbahn erhielt.

Der Ismus der Nützlichkeit wurde oberstes Prinzip in Morrisons Designphilosophie – gegen den „Uselessnism“, gegen die nutzlosen Dinge, die die Welt nicht braucht, im Gegenteil: sie unnötig belasten. Er hasst, wenn etwas „laut“ ist; er will „ehrliche Dinge“, die zum Benutzen taugen. „Deshalb ist Funktionalität beim Entwerfen das wichtigste“, sagt er. Aber er gesteht, dass funktionale Produkte auch gefallen müssen; sie sollen gut und schön sein. Er hat in drei Jahrzehnten über 600 Produkte geschaffen: Sofas, Stühle, Leuchten, Kommoden, Regale, Bestecke, Porzellan und Gläser, aber auch Uhren, Mobiltelefone, Kühlschrank, Waschmaschine und Sanitärelemente für große Marken von Alessi über Andreu World, Cappellini, Magis, Muji, Olivetti, Punkt, Radio, Samsung und natürlich Vitra. Seine Entwürfe sind vielfach mit Designpreisen ausgezeichnet. Seine Ästhetik vereint Mies van der Rohes „Less is More“ mit dem „Weniger, aber besser“ eines Dieter Rams – und mit der Kultur des Wabi-Sabi aus Japan, der Wertschätzung des Einfachen, des Ursprünglichen, des Bescheidenen und der Eigenheit der Dinge.

Jasper Morrison, wen wundert’s, ist mit einer Japanerin verheiratet, hat einen achtjährigen Sohn und dreijährige Zwillinge und lebt insgesamt mehr als die Hälfte des Jahres in Tokio, wo er neben London und Paris Designstudios führt, in denen die formschönen Produkte für Hersteller entstehen, die seine Suche nach dem Wesen eines Gebrauchsgegenstandes verstehen.