AW Architekt des Jahres
AW Architekt des Jahres

AW Architekt des Jahres 2013: BIG – Bjarke Ingels Group

Wenn die Bjarke Ingels Group, kurz BIG, ein Projekt angeht, muss man mit dem Äussersten rechnen: Häuser, die sich demonstrativ vom Verkehrslärm abwenden, und Skipisten auf einer Müllverbrennungsanlage. Für das Bauen mit Witz und Hintersinn wählten unsere Leser:innen das Kopenhagener Büro Bjarke Ingels Group als "AW Architekt des Jahres 2013" aus. 
Datum22.01.2020

Humor hat es schwer in der Architektur. Wer viele Millionen in ein Gebäude investiert, will nicht, dass es hinterher wie ein Witz aussieht. Aber kann das eine Ausrede dafür sein, dass "99 Prozent der Architektur aus investorengesteuerter Mittelmäßigkeit" bestehen, wie Bjarke Ingels meint – und das verbleibende eine Prozent vielleicht schön aussieht, aber immer noch keine gute Laune macht? 

Für Ingels ist das natürlich eine rhetorische Frage. Der Chef und kreative Kopf des dänischen Büros BIG (für Bjarke Ingels Group) beantwortet sie dreifach mit Nein: durch seine Entwürfe, durch eine optimistische Architekturtheorie unter dem Slogan „Yes is more“ und durch seine Persönlichkeit. Allein das schelmische Grinsen, das der größte Spaßmacher der Weltarchitektur zu seinem Markenzeichen gemacht hat, drückt unmissverständlich aus, warum BIG nicht bierernst bauen kann.

Aber was ist nun lustige Architektur, für die Investoren in New York oder die Stadt Kopenhagen eine halbe Milliarde Euro auszugeben bereit sind? Was kann an einem Wohnhochhaus an der 57th Street oder einer Müllverbrennungsanlage in der dänischen Hauptstadt so komisch sein? Etwa, dass jeder Tourist, der in Zukunft Kopenhagens Wahrzeichen, die Kleine Meerjungfrau, fotografiert, im Hintergrund einen rauchenden Schlot auf dem Bild hat? Wohl schon eher, dass dieser Schornstein große weiße Kringel bläst wie ein genussvoller Raucher. Aber die wirklich fröhliche Überraschung stellt sich erst ein, wenn unser Tourist das Gebäude mal heranzoomt. Denn dann wird er feststellen, dass auf dieser Industrieanlage Ski gefahren wird.

„Amagerforbraending“, Dänemarks größtes Müllheizkraftwerk, ist tatsächlich eine so absurd erscheinende Idee, dass ihre Umsetzung wie ein Wunder wirkt. 1,5 Kilometer Skipisten für jeden Schwierigkeitsgrad werden ab 2016 vom Schornstein hinabführen, vorbei an einem 100 Meter hohen Kübelgitter mit Grünpflanzen. „Auf Dänemarks Ski-Team wird man in Zukunft achten müssen“, scherzt der passionierte Snowboarder Ingels. Aber natürlich hat die Gaudi wie immer bei BIG einen pädagogischen Hintergedanken, denn die zukünftigen dänischen Goldmedaillengewinner sollen nicht vergessen, was sich unter ihren Brettern für eine Anlage befindet – obwohl auch diese Form der Belehrung streng spaßgeleitet ist.

Bjarke Ingels Motto: "Yes is more"

Durch große Panoramafenster kann man der Fernwärmeerzeugung im Inneren zusehen, auf den Gipfel des Skibergs führt ein gläserner Aufzug am Schornstein entlang, und oben, am Verpuffungspunkt, hat BIG zusammen mit den Berliner Architekturkünstlern von realities:united ein besonderes Zeichen gesetzt: Die 25 Meter breiten Rauchkringel, die rund eine Million Mal im Jahr dekorativ aus der Anlage aufsteigen und bis zu sieben Minuten sichtbar bleiben, symbolisieren je eine Tonne CO2, die bei der Müllverbrennung freigesetzt wird. Die schönen Gasringe, die alle 30 Sekunden den Himmel zieren werden, sind also tatsächlich ein Memento mori auf die Konsumgesellschaft. Genauso wie der riesige spitze Eisberg „W57“, den BIG in Manhattans Viertel „Hell’s Kitchen“ gerade errichtet, ans Abschmelzen der Gletscher und Polarkappen erinnert.

Trotzdem ist auch „W57“, wie das New Yorker Projekt in der büroeigenen Kürzelsprache heißt, vor allem ein Beispiel für die Grundphilosophie von BIG, wie Bjarke Ingels sie 2009 in dem Comic-Manifest „Yes is more“ dargelegt hat: dass eine konstruktive Avantgarde sich nicht dadurch auszeichnet, gegen etwas zu sein, sondern für etwas. Anstatt die Welt durch Verzicht und Selbstkasteiung retten zu wollen, glaubt der große Optimist, ihr mit Erfindungsreichtum und Freude eine neue Perspektive aufzeigen zu können. Und die an ihrer Nordseite 140 Meter in die Höhe gezogene Blockrandbebauung am Hudson River, die mit ihrer weißen Haut von Ferne ebenfalls für eine Skipiste gehalten werden könnte, ist die launigste Erscheinung eines Öko-Hochhauses, die die Welt je gesehen hat. 600 Wohnungen in Südhanglage auf einem künstlichen Eisberg rund um eine grüne Stadtoase – mehr „Yes“ geht kaum noch.

Als „Schnappschüsse der Gegenwart“, die Kräfte sichtbar machen, die sonst verborgen blieben, möchte Ingels seine Projekte verstanden wissen. „Die Welt ist organisiert durch unsichtbare Strukturen, soziale, kulturelle, ökonomische und politische Strukturen“, erklärt Ingels in seinem New Yorker Zweitbüro in einem denkmalgeschützten ehemaligen Frachtgebäude in Chelsea. „Daraus ergibt sich Form. Aber die Strukturen selbst sind für das menschliche Auge nicht sichtbar, man nimmt sie nur emotional wahr.“ Die Aufmerksamkeit für diese Strukturen zu schärfen, bedeutet für Bjarke Ingels in der Praxis, Formen zu finden, die veränderte gesellschaftliche Zusammenhänge auch neu darstellen können.

Dieser Ansatz ist seine persönliche Interpretation der analytischen Architekturphilosophie von Rem Koolhaas, bei dem er – wie die A&W-Architekten des Jahres 2012, MVRDV – nach seinem Studium gearbeitet hat. Aber Ingels’ Version des klugen Gebäudes ist sonnig gestimmt und deswegen auch stark interessiert an Unterhaltung.

Neue Formen von öffentlichem Raum

Zwei schöne Beispiele, wie fröhliche Schnappschüsse von gesellschaftlichen Strukturen aus - sehen können, finden sich im armen Norden und im neureichen Süden von Kopenhagen. Im Norden, unweit von BIGs langjährigem Büro in Nørrebro – mittlerweile ist man in ein renoviertes Fabrikgebäude am Stadtrand umgezogen –, hat Ingels zusammen mit der dänischen Künstlergruppe Superflex und nach einer intensiven Befragung der meist eingewanderten Bevölkerung, die hier lebt, einen neuartigen öffentlichen Raum geschaffen. Entstanden ist unter dem Namen „Superkilen“ eine bizarre Kunstlandschaft aus Objekten, die Menschen verschiedener Herkunft an ihre alte Heimat erinnern. Unterteilt in die Abschnitte „Roter Platz“, „Schwarzmarkt“ und „Grüner Park“, mischen sich nun lustige Werbe- Stelen für unbekannte Produkte und arabische Zahnärzte mit einem marokkanischen Brunnen, einer schwarzen Oktopus-Rutsche, knallroten englischen Mülleimern, gelben Vogelkästchen, einer weißen Elefanten-Rutsche, einem Boxring, typisch südeuropäischen Schachbrett-Batterien, Bänken unterm Apfelbaum und einem Arsenal unterschiedlicher Lampen zu einem ethnischen Märchenpark als Heimat-Mosaik.

Und auch das „8-House“ am Ende des großen südlichen Stadtentwicklungsgebietes Ørestad erfindet eine ganz neue Form von öffentlichem Raum. Ein aufsteigender Boulevard verbindet die elf Stockwerke des zu einer Acht geschlungenen Wohn- und Büro-Komplexes. Bewohner wie Besucher können hier an den gestapelten Maisonette- Wohnungen mit ihren kleinen Vorhöfen vorbei auf das Dach schlendern oder radeln, um dort für diese Bergtour mit einem freien Blick auf die Marsch und die Stadt belohnt zu werden. Die Intimität einer historischen Altstadt verbindet sich hier mit der Supermodernität des coolen Wohnens zu einem Objekt, das das Beste aus beiden Welten vereint. „Big“ wie diese Beispiele sind inzwischen die meisten Projekte des weltweit agierenden Architektur- Unternehmens mit einem jüngst eröffneten dritten Büro in Peking. Aber trotz der riesigen Budgets, mit denen Bjarke Ingels’ Teams in Europa, Asien und Nordamerika mittlerweile arbeiten, sind ihre Entwürfe weiterhin frei von vorauseilendem Gehorsam. Zwar sagt Ingels über die vielen hundert Köche, die heutzutage an jedem großen Projekt mitwirken: „Als Architekt ist man dazu verdammt, mit Zutaten zu kochen, die andere eingekauft haben.“ Aber der Architektur-Entertainer Ingels sieht genau in diesem Prozess der Verbindung seine Herausforderung. Er versteht es nicht als seine Aufgabe, „Luftschlösser zu erfinden“. Sein Credo lautet vielmehr: „Man muss seine Zeit dort einsetzen, wo man mit minimalem Einsatz maximale Effekte erzielt.“ Und deswegen sind die Konzepte von BIG auch so schlüssig, dass sie mit wenigen Diagrammen jeder versteht.

Das Erfolgsrezept der Bjarke Ingels Group

Doch trotz aller smarter Ideen, wie man zeitgenössisch, ökologisch, sozial und schön baut, unterscheiden sich BIGs Babys von denen anderen Büros mit dem gleichen Ansatz vor allem durch ihr Spaßmoment. Selbst im architektonisch so humorlosen China baut BIG gerade einen ökologischen Wolkenkratzer mit einer energieeffizienten Vorhangfassade aus Betonstreben, die den Eindruck erweckt, der Wind habe die Gardinen an manchen Stellen zur Seite geblasen. In Vancouver entsteht an einem Autobahnkreuz ein schlankes gläsernes Hochhaus, das sich in einer eleganten Bewegung vom Lärm abwendet. In Florida hat BIG ein riesiges Apartmentgebäude in der Mitte auseinandergerissen, damit ein kleiner Bootskanal weiter seiner Wege fließen kann. In Hamburg entsteht eine Siedlung aus Tortenstückchen, in Phoenix ein Aussichtsturm in der Form eines Küchenquirls, in Utah ein Kunstmuseum, das zerläuft wie ein schmelzender Butterwürfel, und in Schweden ein Hotel aus den Gesichtern der Königsfamilie.

Hundert unrealisierten Ideen stehen bei BIG mittlerweile 50 konkrete Projekte gegenüber. Das ist ein erstaunlich hoher Wert für ein Büro, das von jedem Bauherren Pioniergeist verlangt. Aber vermutlich hat auch das etwas mit der einnehmenden Atmosphäre zu tun, die Bjarke Ingels als Person herstellt. Auf das Erfolgsrezept angesprochen, mit dem er Investoren und Behörden von seiner Guten-Laune-Architektur überzeugt, sagt Ingels: „Man sollte beim Entwerfen und Bauen derselbe Mensch sein, der man unter seinen Freunden ist.“ Am besten einer mit Humor.

Der Architekt

Bjarke Ingels wird am 2. Oktober 1974 in Kopenhagen geboren. Nach seiner Architektenausbildung in Kopenhagen und Barcelona arbeitet er von 1998 bis 2001 in Rotterdam im Office for Metropolitan Architecture (OMA) von Rem Koolhaas. 2001 ist er gemeinsam mit Julien de Smedt Mitbegründer des Architekturbüros PLOT. Zusammen entwerfen sie die „VM Houses“ in Kopenhagen. Auf der Architektur- Biennale in Venedig erhalten sie den Goldenen Löwen. 2006 ist Bjarke Ingels Gründer und Namensgeber von BIG, der Bjarke Ingels Group. 2011 öffnet er eine Niederlassung in New York für die Realisierung des Wohnkomplexes „W57“ in Manhattan und weiterer Projekte in den USA. Seit 2013 unterhält BIG auch ein Büro in Peking.