AW Architekt des Jahres
AW Architekt des Jahres

AW Architekt des Jahres 2017: Ben Van Berkel

Datum24.01.2020

Das Amsterdamer Büro UNStudio geht spezielle Wege: Es erhebt schon mal paradoxe mathematische Konstrukte zum Gestaltungsprinzip. Das Schöne daran: es funktioniert. So gut, dass Ben van Berkel zum "A&W-Architekt des Jahres 2017" ernannt wurde.

Die holländische Provinzstadt Arnheim ist bisher weltgeschichtlich im Bewusstsein der Öffentlichkeit nur bekannt durch den Monumental-Kriegsfilm um die missglückte Eroberung der dortigen Rheinbrücke durch die Alliierten. Auch architektonisch gab es von hier noch nichts Wesentliches zu berichten. Umso bemerkenswerter war die Auftragserteilung an das Amsterdamer Büro UNStudio, die Gestaltung des Hauptbahnhofs samt Busbahnhof, Gleisanlagen, Shopping-Mall und Vorplatz zu übernehmen. Also quasi eine Runderneuerung der Innenstadt und ihres zentralen Verkehrsknotenpunkts.

Das leuchtend weiße Gebilde, das sich da seit Ende 2016 mitten in der Stadt eingenistet hat, ist die vorläufige Quintessenz des Schaffens von Ben van Berkel, dem Gründer von UNStudio. Genau genommen ist es eine gebaute Unmöglichkeit: ein mehrgeschossiger Raum ohne getrennte Ebenen, ein Bauvolumen ohne Anfang und Ende, eine geometrische Spielerei, die die Grenzen der Statik zu ignorieren scheint. Darüber wird zu reden sein.

Ben van Berkel ist bereit. Pünktlich, gut gelaunt, entspannt. Auf dem Tisch vor ihm eine Tasse Tee mit Milch, der Beutel bleibt drin. Bevor das Gespräch richtig beginnt, schwärmt er von Amsterdam, dem Sitz seines Studios, das er 1988 mit der Kunsthistorikerin Caroline Bos gegründet hat. Er liebt die Internationalität der Stadt, die sein Büro widerspiegelt: Die 150 Mitarbeiter, die im gerade umbaugeplagten Büro nahe der Heineken-Brauerei die nächsten Entwürfe planen, kommen aus 27 Nationen. Viele aus Deutschland. Bis vor Kurzem war van Berkel Dozent an der Frankfurter Städelschule und hat einige Absolventen für die Mitarbeit an seinen Projekten begeistert. Demnächst könnten einige Amerikaner und Asiaten hinzukommen. Ben van Berkel hat eine Professur in Harvard übernommen. Und betreibt Büros in Schanghai und Hongkong.

Zurück nach Arnheim. Geduldig erklärt van Berkel das Konstruktionsprinzip des Bahnhofsgebäudes: „Ich habe intensiv die großen Ingenieure studiert: Pier Luigi Nervi, Frei Otto. Biegt und dreht man eine Oberfläche, so wie in Frei Ottos ‚Seifenblasen-Experimenten‘, verlagern sich die Kräfte an die Kanten. Die Struktur stützt sich selbst.“ So kommt die Bahnhofshalle mit einer zentralen Säule aus statt zwölf oder mehr, die konventionell für eine Dachspannweite von 60 Metern zur einen und 35 zur anderen Seite benötigt würden. Die in sich gedrehte Stütze hält wie eine Wirbelsäule die verschiedenen Ebenen des Gebäudes, die kaum merkbar ineinanderübergehen. Erfreulicher Nebeneffekt dieser Konstruktion: Die Halle strotzt vor Transparenz.

Und außerdem kommt Ben van Berkel damit seinem Traum näher: dem gebauten endlosen Raum. An dieser Stelle ist es leider unumgänglich, die Leser auf eine etwas strapaziöse mathematische Reise mitzunehmen. Eine Grundidee seines Gestaltungsprinzips ist das Möbius-Band, ein zweidimensionaler Streifen, der, in sich verdreht, an den Enden zusammengeführt, Vorder- und Hinterseite übergangslos miteinander verbindet. Dieses Prinzip hat van Berkel in die Raumfolge in einem seiner Frühwerke angewandt. Die Villa in Utrecht, in der der Boden zur Decke wird, heißt deshalb auch „Möbius Haus“.

Ein anderes Lieblingsmodell ist die „Kleinsche Flasche“, noch so ein unmögliches geometrisches Konstrukt, 1882 erstmals beschrieben von dem deutschen Mathematiker Felix Klein. Salopp gesagt ist es eine Flasche, deren Hals schlangengleich die Außenwand durchdringt und in einem nach innen gewölbten Boden mündet. So gibt es kein definiertes Innen und Außen. Keine Sorge: Ganz so sieht der Bahnhof natürlich nicht aus. Aber wenn man Ben van Berkel noch einige Jahre weiter experimentieren lässt, scheint eine Kleinsche Flasche als Bauwerk gar nicht mehr so abwegig zu sein.

Natürlich kann nicht über Ben van Berkel geschrieben werden, ohne die Erasmus-Brücke gebührend zu erwähnen. Sie ist Initialzündung für die Erschließung (und Gentrifizierung) der stadtnahen Hafengebiete Rotterdams mit den ehemaligen Arbeiterwohnungen, sie ist auch der Startschuss der großen Karriere des Architekten: „Ich war kurz zuvor noch im Büro von Santiago Calatrava tätig. Der hat mir, obwohl er mir den Kontakt zu seinen Ingenieuren untersagte, weil er deren Erkenntnisse als Herrschaftswissen hütete, die fünf Geheimnisse des Brückenbaus mit auf den Weg gegeben.“ Es geht um die Verhältnisse von Stützhöhe, Spannseilstärke, Brückenlänge. Genaueres lässt sich Ben van Berkel dazu nicht entlocken – die beiden hatten abgemacht, dass sie geheim bleiben. Das Wissen half Ben van Berkel, die Stadtverwaltung von seiner Idee einer Spannseil-Brücke mit abgeknicktem Trag arm zu überzeugen. Sie ist das Signet der Stadt geworden, manche sagen sogar: des Landes. Dass später Herr Calatrava ein bisschen beleidigt war, weil er sich als legitimen Urheber der Brücke sah – geschenkt. Beide sind noch befreundet. Und es gibt ja viele Bauwerke – bis hin zur Reichstagskuppel –, für die der Spanier die „eigentliche Urheberschaft“ beansprucht.

Wenn Ben van Berkel mit seinem Team an neue Aufgaben geht, hört er sich nicht selten erst einmal bei Vertretern anderer Disziplinen um. Bei Modemachern, Künstlern. Ein Hauptprinzip: Das „UN“ aus dem Studionamen steht für „United Network“. Jeder soll von jedem lernen. „Manchmal frage ich auch zuerst Schilder-Designer: Wie macht man am schlüssigsten den richtigen Weg deutlich?“ Und dann versucht er es durch Architektur zu lösen, die möglichst ohne Schilder auskommt. Die Raumfolgen sollen so organisiert sein, dass sie selbsterklärend sind.

So war es in Arnheim, so war es auch beim Mercedes-Benz Museum in Stuttgart. Die Idee für den spektakulären Entwurf war schnell geboren: Der Weg soll von oben nach unten führen. Wie beim Guggenheim Museum in New York, dessen Inspiration deutlich zu erkennen ist. Die Sammlung im Mercedes-Benz Museum erzählt die Geschichte der Fortbewegung – oben beginnend.

Bewegung ist ohnehin eines seiner Leitmotive. Die Titel seiner Publikationen sagen alles: „Mobile Forces“, „Move“, „Motion Matters“. Beim Mercedes-Benz Museum passte das Thema gleich in mehrfacher Hinsicht. Als Leitlinie für die Besucherströme, als Thema der Ausstellung. Und als nach außen sichtbares Zeichen für die Architektur.

„Wichtig für so ein Bauwerk ist das ‚big detail‘“, sagt van Berkel. In Stuttgart besteht es aus zwei Elementen: dem leeren Raum und der doppelten Helix für die Ausstellungsrampen drum herum. „Der Trick besteht darin, es zwei-, dreimal zu wiederholen. Es sieht komplizierter aus, als es ist.“ Das klingt im Nachhinein einfacher, als es war. Zumal der Auftraggeber aufs Tempo drückte. „2003 war der Startschuss. 2006 sollte es fertiggestellt sein. Die WM in Deutschland nahte, und der Konkurrent drohte, mit der BMW-Welt von Coop Himmelblau pünktlich zum Fest fertig zu werden (was nicht passierte). UNStudio schaffte es. „Seitdem bin ich in Deutschland bekannter als in Holland.“ Obwohl – in Holland ist er auch ein ziemlich bunter Hund. Fast im Wortsinn. Farbe ist eine weitere seiner Leidenschaften. Die setzt er manchmal so kraftvoll und plakativ ein wie das knallige Orange für das geometrische Gebäude des Theaters Agora in Lelystad, "um in dem deprimierenden Vorort des Städtchens am IJsselmeer die Farbe der Sonnenuntergänge zu manifestieren“.

Oder er nutzt Farbe subtil wie an der Erasmus-Brücke: Den Pylon ließ Ben van Berkel in einem extrem hellen Blau streichen: „Das Verblüffende: Es strahlt heller als ein reines Weiß.“ Den Trick hat er von seiner Mutter. Die steckte immer etwas Blaues in die weiße Wäsche, um die Leuchtkraft zu steigern.

Bei den über 50 bis heute realisierten Bauwerken tritt ein wenig in den Hintergrund, dass UNStudio auch den kleinen Maßstab beherrscht und mit gleicher Hingabe praktiziert. Das Büro entwirft Sessel für Walter Knoll, Bestecke für Alessi. Aber das Traumprojekt ist immer der große Wurf. Der Masterplan. Wie in Arnheim. Jetzt erfüllt der sich noch eine Nummer größer: In Frankfurt plant van Berkel auf dem Gelände der Deutschen Bank einen Hochhauskomplex für Büros, Hotel, Luxus- und Sozialwohnungen, Geschäfte, Restaurants, Bars. „Wir wollen damit die Innenstadt nach Feierabend wieder zum Leben erwecken“, hofft Ben van Berkel. Sollte ihm das in der Frankfurter City tatsächlich gelingen, dürfte die Realisierung des endlosen Raums für Ben van Berkel nur ein Kinderspiel werden.