AW Architekt des Jahres
AW Architekt des Jahres

Christoph Ingenhoven: AW Architekt des Jahres 2024

Der AW Architekt des Jahres 2024 ist eine Persönlichkeit mit vielen Facetten: Christoph Ingenhoven ist Architekt, Stadtgestalter und Erfinder neuer Orte, langjähriger Pionier und Botschafter für ökologisches Bauen, Visionär und Vordenker für überraschende Lösungen und irgendwie, nach über 50 Projekten im Portfolio und Vater von fünf erwachsenen Kindern, ein moderner Philosoph. Wir haben den Architekten in Düsseldorf getroffen.
Text Jeanette Kunsmann
Datum25.06.2024

Christoph Ingenhoven bleibt immer in Bewegung. Gerade kommt er von einer Jurysitzung für einen Wettbewerb in Hamburg, nächste Woche geht es nach Italien, erst auf den Salone del Mobile, dann weiter zur Kunstbiennale nach Venedig, außerdem betreut er 15 Projekte gleichzeitig und er muss in Stuttgart sein: auf der Jahrhundert-Baustelle, die ja schon bald keine Baustelle mehr sein wird. Eines Tages werden zwischen den anmutigen Kelchstützen die Züge auf der neuen Europa-Strecke zwischen Budapest und Paris einen Stopp einlegen und die Menschen werden staunen über die zeitgenössische Kathedrale für einen Untergrundbahnhof. Beton ist poetisch!

Das schwäbische Jahrhundertprojekt der Deutschen Bahn ist spektakulär in vielerlei Hinsicht; den Namen Ingenhoven wird man ab 2025 noch mehr denn je damit verbinden. Allerdings zeichnet der Düsseldorfer Architekt auch für eine Reihe faszinierender Gebäude verantwortlich. Christoph Ingenhoven baut am Strand von Sylt, unter der Erde von Stuttgart und hoch hinauf in die Wolken von Sydney, Singapur und Tokio.

Die Gebäude für den „Lanserhof“, der „Kö-Bogen II“ in Düsseldorf (2020) mit der vertikalen Grünfassade, das grüne Herz „Marina One“ (2018) mit den Sky-Gärten und nicht zuletzt die vertikale Gartenstadt „Toranomon Hills“ (2021) zeigen, wie ökologisches Bauen auch aussehen kann. Der 64-jährige Architekt entwirft mit der Umgebung und gestaltet so immer wieder völlig neue Orte, die ihr Umfeld bereichern. Seine Gebäude „beherbergen, sie umhüllen, sie umsorgen, sie umschmeicheln. Was will man mehr?“, schwärmte einmal der Architekt und Bauingenieur Werner Sobek, ein Projektpartner und ein guter Freund von Christoph Ingenhoven.

Routinen vermeiden

Zufall oder Zauberei? Die Geschichte des Stuttgarter Bahnhofs beginnt mit einem Verweis auf Harry Potter, bevor es die Figur des Magiers überhaupt gab. Als Christoph Ingenhoven zusammen mit seinem damaligen Kollegen Jürgen Overdiek (1954–2007) in den 1990er-Jahren im engen Kessel der Stadt Stuttgart den zukünftigen Bahnhof entwerfen wollte, flogen sie erst einmal nach London. Dort wollten die Architekten den Bahnhof „St. Pancras“ besuchen. 

„Wir konnten in London sehen, dass man innerhalb von acht bis zwölf Metern einen wunderbaren Bahnhof bauen kann, ohne dass irgendwas fehlt“, erzählt Ingenhoven und ergänzt: „Nun, sie müssen die Architektur dann natürlich schön und zart und elegant gestalten.“ Er lacht. Ja, tatsächlich kann der Drehort für den vermeintlichen Harry-Potter-Bahnhof „King’s Cross“ mit seinem berühmten Gleis 9 ¾ nach Hogwarts in gewisser Weise als Vorbild für den neuen Hauptbahnhof in Stuttgart gelten. 

Es ist die beliebteste Baustelle des Landes: Der neue, achtgleisige Tiefbahnhof in Stuttgart wird eine moderne Kathedrale aus Tageslicht und Sichtbeton. Mit dem Entwurf hatten sich Christoph Ingenhoven und Team 1997 im Wettbewerb gegen 125 andere Büros durchgesetzt.

„Um etwas neu zu denken, braucht es vor allem Unvoreingenommenheit“, zeigt sich Christoph Ingenhoven überzeugt, weswegen er Erfahrung und Routine als gefährlich empfindet. „Ich glaube, dass ich als 25-jähriger Architekt vor allem unroutiniert sein wollte“ fällt da in einem Nebensatz. Wie gelingt es, nicht auf die Routine-Spur abzubiegen, sondern „den Stau auf der Standspur zu überholen“? 

Der Tiefbahnhof in Stuttgart ist ein Entwurf, der zustande kam, weil der junge Christoph Ingenhoven die Lösungen, die im Raum standen, allesamt schlichtweg unrealistisch fand. „Diese Entwürfe lösten ein Problem, schufen aber gleichzeitig 30 neue Probleme“, urteilt Ingenhoven. 

Zusammen mit seinen Mitstreitern entwickelt er die „wilde Idee“, den Bahnhof pragmatisch unter Niveau zu platzieren. „Die damit verbundenen Schwierigkeiten konnten wir mit einer sehr schönen Konstruktion überwinden. Manchmal ist es auch Glück, das einen weiterführt“, so der Architekt mit einer Gelassenheit, die nur Christoph Ingenhoven haben kann.

Verbündete finden

Es ist kein Geheimnis, dass der Stuttgarter Tiefbahnhof Geduld, Geld und immer wieder starke Nerven erforderte, auf allen Seiten. Vom Wettbewerb 1997 bis zur anvisierten Eröffnung 2025 sind fast drei Jahrzehnte vergangen, die Welt ist längst eine andere. „Das Unmögliche bauen“ könnte ein passender Büro-Claim für Christoph Ingenhoven Architects sein. Alles andere wäre für den Düsseldorfer vermutlich auch langweilig.

Frei Otto wollte dann auch mit dabei sein. Man muss es sich vorstellen: Wie ein junger Architekt aus Düsseldorf, das Diplom gerade in der Tasche, beim Leichtbau-Papst Frei Otto (1925–2015) anruft, weil er eine fachliche Frage hat. Diese betraf ein „ökologisch orientiertes Hochhaus“ für den Commerzbank-Wettbewerb in Frankfurt. „Frei Otto war sehr nett und sagte zu mir am Telefon, ich soll einfach mal bei ihm im Büro vorbeikommen“, erinnert sich Christoph Ingenhoven. „So haben wir uns kennengelernt.“ 

In Frankfurt wurde es ein zweiter Preis für Ingenhoven. Aber als ein paar Jahre später Frei Otto wiederum bei Christoph Ingenhoven anruft, um sich einerseits darüber zu beschweren, dass er (als Stuttgarter Architekt!) nicht zum Bahnhofswettbewerb eingeladen war, und um sich andererseits zu erkundigen, ob Ingenhoven eine Wildcard für den Wettbewerb bekommen habe (hatte er!), zögert dieser nicht lange: „Wenn du Lust hat, dass wir zusammenarbeiten, können wir gerne darüber reden!“ 

Auf der Standspur überholen

Die beiden Architekten aus zwei verschiedenen Generationen trafen sich schließlich im Modelllager von Frei Otto, der als Experte für Hängemodelle und Seilnetzdächer (Olympiadach München) gilt. Christoph Ingenhoven erinnert sich: „Er wollte unbedingt große Pylone bauen und ein Zeltdach. Aber dann wäre es kein Platz gewesen. Ich habe behauptet, dass es bestimmt auch umgekehrt funktioniert: oben die Landschaft und unten der Bahnhof.“ So entsteht nach vielen Experimenten mit Seifenblasen die markante Freiform der ikonischen Kelchstütze. Durch die Auslassung im Zentrum kann Tageslicht in den Tiefbahnhof gelangen.

Was Christoph Ingenhoven immer wieder Spaß macht, ist, die richtige Lösung für ein Problem zu finden. „Zeitlose Architektur entsteht, wenn ein Entwurf nicht nur aktuelle Fragen beantwortet und zeitgebundene Aufgaben löst, sondern darüber hinaus geht“, zeigt sich Ingenhoven überzeugt. Ein Beispiel: der Neubau für den „Kö-Bogen II“. Das Projekt sei im Grunde „die Erfüllung aller Träume, die der Investor hatte, ohne dass dieser selbst davon etwas wusste“, verrät der Architekt. „Wir haben gut zugehört. Und wir haben versucht, für die Stadt und die Umgebung, für die BürgerInnen und für die Architektur das Optimale rauszuholen.“

Gut zuhören und überraschen

In seiner Heimatstadt setzt Christoph Ingenhoven seit 1992 mit Studien und Entwürfen wesentliche Impulse für die Weiterentwicklung des Zentrums. Mit dem Umbau und der Sanierung des Schauspielhauses, 1965 von Bernhard Pfau entworfen, gelang es dem Architekten, eine bedeutende Ikone der Nachkriegsmoderne zu erhalten und zur Stadt zu öffnen.

Fahrt zum Gustaf-Gründgens-Platz in Düsseldorf, flankiert vom „Dreischeibenhaus“, dem Schauspielhaus und dem „Kö-Bogen II“. Eine froschgrüne Rasenfläche steigt als dreieckige Plattform über dem Platz auf eine Höhe von etwa fünf Metern an. Sie wird zur Bühne für das städtische Leben, während im Inneren des Schauspielhauses ein fast ketchuproter Teppich das Publikum ins Innere des Theaters führt. 

Christoph Ingenhoven liebt Überraschungen und er liebt Metaphern. In diesem Fall spricht er von einer Kuh, die er und sein Team noch ein bisschen anders fliegen lassen wollten, also ein Entwurf abseits von Standard und Konventionen. Gebaut wurde ein Neubau, der zwischen Stadt und Park vermitteln soll, weswegen 30 000 Hainbuchen den Baukörper fast komplett bedecken. Ingenhoven nickt. „Ja, wir haben die Kuh tatsächlich fliegen lassen!“ 

60 Jahre, nachdem das „Dreischeibenhaus“ von HPP gebaut wurde, konnte 2020 mit dem „Kö-Bogen II“ ein Haus in Deutschland realisiert werden, das unterstreicht, wofür die Architektur von Christoph Ingenhoven Architects steht. Klimaneutral, ganzheitlich, mit Mehrwert für alle und natürlich „supergreen“: Diesen Begriff hat sich Christoph Ingenhoven schon vor 30 Jahren als Marke schützen lassen. Das Schauspielhaus von Bernhard Pfau aus den 1960er-Jahren hat Ingenhoven parallel zum „Kö-Bogen II“ denkmalgerecht saniert, umgebaut und modernisiert. Was man nur aus der Vogelperspektive sehen kann, sind die neuen, extensiv begrünten Dächer.

Verstehen, lernen und überzeugen

Auch die Medical-Spa-Projekte für die Lanserhof-Gruppe folgen Ingenhovens „supergreen“-Philosophie. Entworfen im Einklang mit der Natur und reduziert auf das Wesentliche sind die Gesundheits-Resorts inspiriert vom jeweiligen Standort und den lokalen Bautraditionen.

Eine andere Projektgruppe, die Ingenhoven seit mittlerweile 2011 als Hausarchitekt begleitet, sind die Neubauten für das Gesundheitsresort „Lanserhof“. Die Anfrage für den „Lanserhof Tegernsee“ erhält er, weil er selbst dort Gast ist und seine Architektur geschätzt wird. Trotz Widerstand der Gemeinde und einer Volksabstimmung kann das Projekt am Tegernsee nach nur zwei Jahren Bau- und Planungszeit eingeweiht werden. Ingenhoven weiß, wie man überzeugt.

Für den jüngsten Coup, den „Lanserhof Sylt“, hat Christoph Ingenhoven die typischen Friesenhäuser mit tiefgezogenen Reetdächern neu interpretiert. Das Haupthaus ruht auf Stützen mit einem rundherum verglasten Erdgeschoss, während das große, handgefertigte Reetdach die Sylter Düne nachbildet

Auch auf Sylt begegnet ihm erst Skepsis, dann folgt Sympathie. Unter dem großen Reetdach gibt eine große Glasfassade den Blick auf die Landschaft frei: „ein sensationelles Erlebnis, wenn man die Dünen im Sturm sieht“, schwärmt Ingenhoven. Seine Methode beruht darauf, die traditionelle Architektur genau zu untersuchen, das Prinzip zu verstehen und neu zu interpretieren.

Locker tänzeln und beweglich bleiben

Das international agierende Architekturbüro von Christoph Ingenhoven liegt am Standort Plange Mühle im Medienhafen. Von hier blickt man auf die Rheinkniebrücke, die Altstadt und den Rhein, der in der Ferne am Horizont verschwindet

Wenn man sich mit Christoph Ingenhoven unterhält, befindet man sich direkt auf einem Spaziergang durch die Höhen und Tiefen der Baugeschichte. Das passiert beiläufig. Dann geht es um den Besuch der Stirling-Galerie in Stuttgart mit James Stirling persönlich („ein lustiger Typ“), um das Pantheon in Rom und das Zenit-Licht in der größten Kuppel der Welt („eine Riesenkraft, darunter kann man Zeitung lesen“), um die erste Architekturbiennale in Venedig 1980, die Ingenhoven als Architekturstudent von Hans Hollein besucht hat („großes Kino“) und immer wieder um die Postmoderne. 

Was man von Christoph Ingenhoven über Christoph Ingenhoven erfährt? Er ist Architekt geworden, weil sein Vater Architekt war. In seiner Jugend hat er Tennis gespielt, Klavier und Querflöte, er hat alle Ausgaben der Architekturbiennale in Venedig besucht, zeichnet ausschließlich mit der Hand und beim genauen Zuhören bemerkt man, dass der ohnehin eloquente Christoph Ingenhoven auch noch souverän gendert.

Ausstellung „Stuttgart Main Station“: Ein Jahrhundertprojekt wird Realität

Diesen Sommer reist der neue Tiefbahnhof Stuttgart nach Berlin. Als Preisträger des Awards AW Architekt des Jahres 2024 stellt Christoph Ingenhoven das Jahrhundertprojekt in der Aedes Galerie am Berliner Pfefferberg vor. Es ist die sechste Kooperation von AW Architektur & Wohnen mit dem Aedes Architekturforum für die Ausstellung zum AW Architekt des Jahres. 

Während im ersten Ausstellungsraum ein Displaytisch den Entwurfsprozess und die bauliche Umsetzung des Stuttgarter Hauptbahnhofs vorstellt, bietet eine Installation im zweiten Ausstellungsraum räumliche Einblicke in den bereits fertiggestellten Rohbau der unterirdischen Bahnhofshalle. Dort wird eine 360°-Fotoinstallation mit einem Durchmesser von neun Metern und Bildern des Architekturfotografen HG Esch das Raumgefühl dieses spektakulären Ortes vermitteln.

Eröffnung: 19. Juli 2024, 18:30 Uhr
Ausstellung: 20. Juli bis 28. August 2024
Ort: Aedes Architekturforum, Christinenstraße 18–19, 10119 Berlin 

Zur Eröffnung sprechen Hans-Jürgen Commerell (Aedes, Berlin) und Christoph Ingenhoven (christoph ingenhoven architects, Düsseldorf). 

Öffnungszeiten Aedes Architekturforum:
Di–Fr: 11–18:30 Uhr
So–Mo: 13–17 Uhr 

Mehr Infos: aedes-arc.de

Hier geht es zum Livestream der Preisverleihung (19.07.2024, 17:30 Uhr).

Diese Ausstellung wurde ermöglicht durch die Unterstützung von

und den Aedes Kooperationspartnern