Gläserne Renaissance
Glas feiert ein Comeback. Handwerkskunst, mutiges Design und das vielseitige Material verbinden sich zu aufregenden Leuchten, Möbeln und Accessoires.
Glas ist das vielleicht faszinierendste Material der Welt: stark und zerbrechlich, spröde und formbar, schimmernd, strahlend und transluzent. Ein Stoff, wie nicht von dieser Welt. Lange vernachlässigt, weil Holz, Metall oder gar Kunststoff leichter zu bändigen sind, feiert Glas in Form von Leuchten, Möbeln oder Accessoires jetzt eine beeindruckende Renaissance.
Schönes Glas braucht Künstler. Handwerker, die aus dem schwierigen Material alles herauszuholen wissen, was in ihm steckt. Davon gibt es nicht mehr allzu viele. Gebrauchsglas lässt sich gut industriell als Massenware herstellen, da blieb für die Kunsthandwerker ob in Böhmen oder Murano lange Zeit nicht viel zu tun.
Das hat sich geändert. Glas ist en vogue. So sehr, dass Netflix eine eigene Serie draus gemacht hat: „Blown Away“ inszeniert das klassische Handwerk als Wettkampf in dem zehn erfahrene Glasbläser in der größten Glashütte Nordamerikas gegeneinander antreten.
Könner aus Böhmen
Aber was für die einen Spektakel ist, ist für die anderen ein gutes Geschäft mit einem First-Class-Produkt. Immer mehr Premiummarken setzen auf Gläsernes vor allem aus Böhmen: Glasbläsereien wie Brokis, Bomma und Kavalierglass haben neben eher konservativen Entwürfen auch überraschende, zeitgenössische Produkte im Programm. Hier in Tschechien finden sich noch außergewöhnlich versierte Glasbläser, die ihr Handwerk in Perfektion beherrschen.
Dank vieler neuer und auch wiederentdeckter Firmen wie Lasvit, Moser oder Verreum erscheint Glas heute erneut in kreativem Glanz, schließlich entfaltet Licht erst durch Glas scheinend seine ganze Grandezza. Es müssen ja nicht gleich monströse, überdimensionale Kronleuchter für orientalische Paläste sein, wie sie etwa Lasvit offeriert. Das Ganze geht auch eine Nummer kleiner.
Eine Wolke aus Glas
Gerade macht die Schweizer Designerin Simone Lüling mit ihrer in Berliner Firma ELOA Furore. Ihre in Böhmen mundgeblasenen gläsernen Leuchten in organischen Formen sind ästhetische Highlights in jedem Wohnzimmer. Auf der Kölner Möbelmesse imm cologne im Januar feierte Möbelhersteller Kettnaker mit einer strahlenden Wolke aus 150 Starglow-Lampen von ELOA in allen Farben über seiner Jubiläumskollektion zum 150. Geburtstag. Und in Berlin setzen irisierende ELOA-Leuchten den Kreuzberger Himmel, ein angesagtes, von Flüchtlingen betriebenes Szene-Restaurant und seinen Bistro-Ableger Himmel 8, ins rechte Licht. Natürlich werden auch die exklusiven Unikate vom ELOA in Böhmen handgefertigt. Ebenfalls aus Böhmen stammt die mundgeblasene wahrhaft poetische Tischleuchte Flakes von Hanne Willmann (Studio Besau-Marguerre) für den deutschen Hersteller Favius. Per Hand werden auf jeden Leuchtkörper Farbglaskörner aufgetragen, die ein einzigartiges Lichtspiel entstehen lassen.
Leuchtobjekte vom Feinsten
Die Zeiten, als ein Ausnahme-Artist wie Borek Sipek als innovativer Einzelkämpfer für avantgardistische Glaskunst aus Böhmen stand, sind vorbei. Eine der bedeutendsten zeitgenössischen Glas-Designerinnen ist die Tschechin Lucie Koldova. Als Kreativ-Direktorin von Brokis und dem Unternehmen Per Use kreiert sie elegant-minimalistische Leuchtobjekte vom Feinsten, Alltagsgegenstände und Kunstwerke zugleich. Auf der MAISON&OBJET 2020 feierte Brokis das 10-jährige Jubiläum der ikonischen MUFFINS-Kollektion von Lucie Koldova und Dan Yeffet mit einer Sonderedition aus Marmor und exotischen Hölzern und präsentierte die neue GEOMETRIC-Kollektion von Boris Klimek und Lenka Damová.
Altes Handwerk mit Mut für Neues
Dass in Tschechien nicht nur exzellente Glasbläser arbeiten, sondern auch Gestalter, die ihnen das Wasser reichen können beweisen auch Michaela Tomišková und Jakub Janďourek. Sie entwerfen in ihrem Dechem Studio phantasievolle, minimalistische Glasobjekte, Lampen und Vasen. In den Spazio Rossana Orlandi, das Hauptquartier der gleichnamigen einflussreichen Mailänder Designpäpstin, haben es die Transformationsleuchten von Deform Studio (Jakub Pollág und Václav Mlynář) für Lasvit geschafft.
Überhaupt ist Lasvit eine der wichtigsten Marken hinter der Glas-Renaissance. Die Firma hat nicht nur die Offenheit, das uralte Material aktuellen Designern wie dem Japaner Kengo Kuma mit seiner Yakisugi-Kollektion anzuvertrauen, sondern auch die richtigen Manufakturen zur Umsetzung ungewöhnlicher Ideen.
500 Jahre Tradition aus Bayern
Eine der wenigen deutschen Glashütten, die es vom 16. bis ins 21. Jahrhundert geschafft haben, ist die Manufaktur von Poschinger im Bayerischen Wald. Hier durchzieht eine 150 Kilometer Lange Quarzader (das wichtigste Ausgangsmaterial von Glas) die Region und hier entstanden im 14. Jahrhundert die ersten Glashütten. Benedikt Freiherr Poschinger von Frauenau führt die älteste Glashütte Deutschlands in der 15. Generation. Dass das Familienunternehmen so lange Bestand hat, liegt sicher nur am Beharrungsvermögen derer von Poschinger, sondern auch an ihrer Neugier und Innovationsfreude. Aktuell arbeitet zum Beispiel Designstar Sebastian Herkner für Poschinger. Classicon lässt seinen Bestseller, den Bell Table, in Frauenau in den wunderbarsten Farben mundblasen – ganz aktuell auch in einem neuen, kräftigen Blauton.
Überhaupt nutzt Herkner das Material Glas mit wachsender Begeisterung, angefangen von der neuen Plissee-Standleuchte und den Oda-Leuchten für Pulpo bis zum Bent-Tischchen für den gleichen Hersteller. Pulpo ist von Glas überzeugt: In Köln präsentierte das deutsche Unternehmen gleich zwei neue Glas-Produkte: das Brut-Regal und den Sofatisch Aspa. Leichte, transparente und minimalistische Möbel auf der Höhe der Zeit. Genauso wie ihr faszinierendes Material: Glas.