Chiara Andreatti: "Design ist die Suche nach den Details"
Bei Chiara Andreattis Entwürfen trifft Handwerk auf Industriedesign, das passt perfekt zum Zeitgeist. Dabei geht es der Gewinnerin des Kaldewei Future Awards bei ihrer Arbeit nicht um Trends, sondern um Poesie.
Es sind Dinge mit Geschichte, die Chiara Andreatti faszinieren. Und dann noch die Natur, traditionelle Handwerkstechniken, Materialien wie Wolle, Glas, Keramik, Weidengeflecht und Porzellan.
Ihre Inspiration findet die 40-jährige Kreative in der Verbindung von zunächst scheinbar Gegensätzlichem: „Ich bin daran interessiert, etwa zwei verschiedene Arbeitsweisen wie Handwerk und Industrie zusammenzubringen oder mich einem Produkt im Kontext von Grafik- oder Modedesign zu nähern. Ich sehe mich nicht als Industriedesignerin, ich fühle mich eher von der instinktiven Emotionalität angezogen, die von einem Objekt ausgeht. Für mich ist es wichtig, dass die Dinge eine Seele haben.“
Chiara Andreatti stammt aus der Nähe von Venedig. Gut möglich, dass die Kultur dort ihren Ansatz geprägt hat, dass alltägliche Gegenstände mit einer handwerklichen und poetischen Note das Leben bereichern.
Nach ihrem Studium in Mailand und dem Master an der Domus Academy arbeitete sie zunächst bei Renato Montagner und Raffaella Mangiarotti, bevor sie 2006 ins Studio Lissoni kam. Nach über zehn Jahren dort realisierte sie mehr und mehr eigene Projekte.
Heute betreibt Andreatti ein Studio in der Nähe des Mailänder Hauptbahnhofs, schon das Ambiente spiegelt ihren sehr persönlichen Ansatz wider. Zwischen üppigen Grünpflanzen hängen Fotos und Moodboards neben Zeichnungen, Material- und Farbproben an den Wänden. Hier und da reihen sich handwerklich besondere Reisemitbringsel wie Strohhüte oder Fächer aneinander, Prototypen bilden dekorative Stillleben. Diese vielfältigen Collagen verraten viel darüber, wie der Arbeitsprozess in diesem Atelier abläuft.
Inspiration aus aller Welt
„Es kommt auf das jeweilige Projekt an, wie ich starte“, erklärt Chiara Andreatti. „Normalerweise ist mein Ausgangspunkt etwas, das ich irgendwo gesehen habe oder das ich bei meiner Archivrecherche finde. Ich beschäftige mich mit verschiedenen Aspekten, von zeitgenössischer Kunst über historische oder moderne Architektur bis hin zu Handwerk. Vor allem auf Reisen nutze ich die Gelegenheit, den Stil vor Ort kennenzulernen oder Bräuche zu studieren.“
Solche Erfahrungen schlagen sich dann, wenn es irgendwann passt, in einem Produkt nieder. Der Tisch „Bulè“ für Lema ist ein Beispiel: Die kleine drehbare Scheibe auf der Tischplatte ist eine Reverenz an die in orientalischen Ländern übliche Gepflogenheit, Essen zu teilen. Bei dem Schrank „Sen“ für Potocco bilden Holzleisten ein gitterförmiges Muster auf den Schiebetüren aus Glas, für die die Papiertüren in Japan als Inspiration dienten.
Diese Form von Übertragung wirkt bei Chiara Andreatti niemals abgeschaut, dafür sind ihre Objekte zu eigenständig. Als Betrachter hat man eher – im positiven Sinn – den Eindruck, auf gute alte Bekannte zu treffen, die ein Ambiente bereichern. Natürlich durch ihre Funktion, aber auch durch ihre stille und raffinierte Ästhetik.
Piero Lissoni, AW Designer des Jahres 2021, schätzt die ebenso ruhige wie kontrollierte Form von Andreattis Kreativität und die Zukunftsfähigkeit ihrer Ideen. Ihre Handschrift ist gewachsen aus der Wertschätzung für Traditionen und Handwerk sowie dem Interesse für die Frauen, die in der Szene aktiv waren oder sind.
"Seit Langem versuche ich, das Leben von Künstlerinnen und Designerinnen zu entdecken, ihre Welten zu betreten und ihre Fähigkeiten, ihre Gefühle und ihre Persönlichkeiten zu analysieren"
"Dazu zählen etwa die französisch- amerikanische Künstlerin Louise Bourgeois mit ihren textilen Arbeiten, die niederländische Designerin Hella Jongerius, die mit großer Originalität Industrie und Kunsthandwerk vereint, und die französische Textildesignerin und Malerin Nathalie Du Pasquier, deren Werke afrikanische Reisen transponieren. Ich habe mich immer zu Freigeistern hingezogen gefühlt, vor allem zu Frauen aus der Vergangenheit, zu Reisenden, zu kontroversen Frauenfiguren.“
Poesie als Designansatz
Eines ihrer absoluten Lieblings-Designobjekte stammt allerdings von zwei Männern: die Stehleuchte „Luminator“, die Achille und Pier Giacomo Castiglioni 1954 für Flos kreierten. „Dies war eine der ersten Lampen, die ich gekauft habe, als ich in Mailand in meine Wohnung zog“, sagt die diesjährige Preisträgerin des Kaldewei Future Award. „Ich mochte die Leuchte immer schon, weil sie Strenge mit Fantasie verbindet. Sie hat etwas Menschliches und wirkt mit ihren drei schlanken Beinen und ihrem langen Hals wie ein belebtes Objekt, das in einem zwiebelförmigen Kopf endet und sich zur Decke streckt.“
"Das handwerkliche Detail im industriellen Produkt macht es schön und einzigartig."
Wenn es die Leuchte nicht schon gäbe, sie hätte glatt von der Wahlmailänderin entworfen werden können, denn Pragmatismus gepaart mit Poesie, so könnte man den typischen Andreatti-Look wohl am besten zusammenfassen.
Dazu passt, dass die Designerin auf die Frage nach einem Projekt, dass sie gern mal umsetzen würde, antwortet, dass sie eine Kollektion von Bad- und Küchentextilien, vielleicht auch Strandhandtüchern, reizvoll fände.
Das klingt im Umfeld von hochwertigen Möbeln, ausgefallenen Glasaccessoires und kunstvollen Teppichen zunächst etwas kurios. Tatsächlich beweist es Haltung: Eine Gestaltungsdisziplin ist nicht bedeutender als eine andere, vielmehr kommt es darauf an, mit welcher Einstellung und mit welchem Anspruch man ein Projekt angeht.
Daher war der beste Rat, den sie als junge Kreative bekommen habe, der gewesen, auf den eigenen Instinkt zu hören und eine eigene Handschrift im Design zu finden. „Ich weiß inzwischen, wie wichtig es ist, eine Ästhetik zu entwickeln, mit der man sich identifiziert und der man treu bleibt, in der man sich selbst erkennt und von anderen erkannt wird. Es ist wirklich unbezahlbar“, so schwärmt Chiara Andreatti, „einen Job zu haben, der ein Teil von dir ist.“