"Spaces of Life": Portrait des Ausnahmearchitekten Ole Scheeren
Seine Karriere beginnt früh. Schon als Teenager arbeitet Ole Scheeren im Architekturbüro seines Vaters, realisiert mit 21 Jahren das erste Projekt und reist zunächst durch China, bevor er in Karlsruhe, Lausanne und London studiert. Mit 31 Jahren leitet er die Asienprojekte von Rem Koolhaas und realisiert mit CCTV eines der größten und spektakulärsten Bauwerke der Welt. 2010 beendet er seine Partnerschaft bei OMA, um ein eigenes Büro Ole Scheeren mit ersten Standorten in Asien zu gründen. Heute leitet der 51-Jährige Architekturstudios in Peking, Hongkong, London, Berlin sowie Dependancen in Bangkok und New York.
Ole Scheeren: Dimensionen von Raum und Zeit
Ole Scheeren bewegt sich nicht nur zwischen den Büro- und Projektstandorten, er ist zwischen den Welten unterwegs. Die vier Standorte plus zwei Dependancen befinden sich auf drei Kontinenten und in fünf verschiedenen Zeitzonen und verbinden sich zu einem großen Büro. Die Architektur von Ole Scheeren kennt keine Grenzen. Der Gedanke hinter dieser stetig gewachsenen Büroorganisation ist mehr, als nur ein internationales Netzwerk zu bilden. „Es war von Anfang an der Plan, eine Struktur zu schaffen, die uns ermöglicht, über die Grenzen und Kontinente hinweg miteinander zu arbeiten und zu denken“, erklärt Ole Scheeren.
"Wir haben gar keine andere Chance, als Optimisten zu sein."
Er sitzt an seinem Schreibtisch in London, als wir miteinander sprechen: "Die Erfahrungen, die wir in einem Teil der Welt sammeln, können wir auch in anderen Teilen anwenden. Ein Projekt kann gleichzeitig an drei Standorten bearbeitet werden. Es ist eine Bürostruktur, die wirklich als eine globale Einheit funktioniert." Was zum aktuellen Zeitpunkt nach Brexit, Hongkong-Konflikt und zweieinhalb Jahren Coronapandemie ein noch größeres Gewicht erhält als vor zehn Jahren.
Bühnen des Alltags
Trotz dieser beeindruckenden Struktur arbeitet Ole Scheeren nicht nur in großen Dimensionen wie dem CCTV Tower für OMA in Peking oder dem preisgekrönten Apartment-Ensemble The Interlace in Singapur. Es zieht ihn ebenso immer wieder ins andere Extrem: dem Entwurf von kleinen Räumen und Konzepten. Dafür ist er zwar weniger bekannt, aber er selbst schätzt den Maßstabswechsel bei diesen Projekten. Genauso wie er den Fokus Mensch für die wichtigste Zielsetzung der Architektur hält, handhabt er es bei seinen Interieurs und Ausstellungsprojekten. So ist es stimmig, dass die schneeweiße Topografie der Auslagen in New Yorks legendärem Feinkostgeschäft Dean & DeLuca im Meatpacking District sich so verhält wie die Fassadenstruktur eines Großprojekts.
Dean & DeLuca Stage wurde 2019 eröffnet, ist also präpandemisch und gleicht im Grunde einer Theaterbühne. Präsentation und Zubereitung der Speisen stehen hier im Mittelpunkt und würdigen dabei alle Beteiligten. Drum herum können sich dann die Gäste für die Bestellungen platzieren. Ole Scheeren erklärt: "Ich habe Stage als einen sozialen Magneten konzipiert, als ein spektakuläres futuristisches Schaustück, das Menschen zusammenbringt." Dabei möchte der Architekt die Interaktionen zwischen den Menschen anregen und fördern. Die Form ist dabei nur Mittel zum Zweck.
"Solange wir Gebäude bauen, die von Menschen bewohnt werden, steht der Mensch im Zentrum."
Ein weiteres Beispiel ist die schwimmende Plattform für das Auditorium im Rahmen des thailändischen Festivals "Film on the Rocks". Auch sie folgt mit ihren flexiblen Modulen der Idee, ein gewohntes Verhältnis ganz neu zu denken. Das Archipelago Cinema war 2012 eines der ersten Projekte für das Büro Ole Scheeren. Die Leinwand spannte sich zwischen den Felsen, das Publikum schwebte über dem Meer. Die Module gruppierten sich wie kleine Inseln, die stets weiterreisen können. Das taten sie auch und kehrten nach ihrer ersten Nutzung am Ende als Geschenk zu den Hummerfischern zurück, die sie gebaut hatten.
Neue Wege bei der medialen Vermittlung
Zurzeit plant Ole Scheeren wieder in der Stadt, in der sein Weg begonnen hat. Zum ZKM (Zentrum für Kunst und Medientechnologie) hat Scheeren einen engen Bezug – nicht nur, weil Karlsruhe seine Heimatstadt ist. "Ich kenne das ZKM seit Gründung durch Heinrich Klotz und war auf den ersten Ausstellungen in den umgebauten Hallen des IWK A (Industriewerke Karlsruhe-Augsburg)", erzählt der Architekt und ergänzt: "Historisch gesehen ist es eine der ersten Institutionen, die Medien als Kunst anerkannt und in den Vordergrund gestellt haben." Das ZKM als Avantgarde ist der perfekte Kontext für die Architektur von Ole Scheeren. Und die generelle Frage, wie Architektur medial übersetzt werden kann. Es wird keine klassische Architekturausstellung, die Ole Scheeren mit seinem Team in Zusammenarbeit mit dem ZKM-Kurator Peter Weibel konzipiert hat.
Wenn "Ole Scheeren: Spaces of Life" am 10. Dezember 2022 eröffnet wird, soll die Ausstellung auf unterschiedlichen Ebenen zugänglich sein – nicht ausschließlich dem Fachpublikum, sondern allen Architekturinteressierten. Räumliche, großformatige Installationen werden die großen Ausstellungshallen und Atrien des ZKM bespielen. Es geht darum, Architektur als räumliche Objekte erfahrbar zu machen. Neben dieser erlebnisbezogenen Ebene will Ole Scheeren auch die Ideen und den Prozess von Architektur vermitteln.
Was dem Architekten dabei wichtig ist? "Ich möchte kommunizieren, dass meine Architektur keine Architektur der Formen ist. Denn diese sind immer das Ergebnis von Gedanken, wie sich Verhältnisse neu definieren lassen. Daraus entstehen meine ungewöhnlichen Formen." Mit dem Credo "Form Follows Fiction" geht es ihm um Lebensräume für die Menschen, nicht um eine Form der Form willen. "Das wichtigste Ziel der Architektur ist, dass sie für die Menschen gebaut ist", sagt Scheeren, "Menschen bewohnen Architektur und beleben sie."
Ole Scheeren: Improvisieren als Methode
Als die Kuratoren Hans Ulrich Obrist und Hou Hanru die Wanderausstellung "Cities on the Move" Ende der Neunzigerjahre initiierten, entwickelte Ole Scheeren für die zwei Stationen in London und Bangkok die Ausstellungskonzepte. "Cities on the Move" war die erste große Ausstellung mit mehr als 100 Personen aus Kunst und Architektur, die auf die asiatische Stadt geschaut hat", erklärt Scheeren. "Die Station in der Londoner Hayward Gallery markierte dabei den Endpunkt der westlichen Tour: Dort wurde das unbekannte Asien vorgestellt." Um dem White Cube zu entkommen, entschied Ole Scheeren, nichts Neues zu bauen, sondern vielmehr zu improvisieren. Elemente früherer Ausstellungen der Hayward Gallery konnten wiederverwendet werden, das Team arbeitete vor Ort im Raum – und ohne einen konkreten Plan. "Beim Improvisieren geht es um die schnelle Veränderung und die Dinge, die sich daraus ergeben können. Die Idee der Ausstellung war auch Methodik", erklärt Scheeren. Weil es in Bangkok für "Cities on the Move" gar kein passendes Museum gab, entwickelte er für diese Station ein Konstrukt, das die Stadt selbst als Raum der Ausstellung integrierte.
"Architektur ist nie für einen Moment gebaut, sondern immer für eine Zukunft. In diesem Sinne ist das Verständnis von Improvisation sehr wichtig."
Das Ergebnis war eine urbane Installation mit 25 Locations, darunter private Galerien, Hauptbahnhof, das Rathaus und eine Shopping Mall. Was heute nach einem bewährten Event-Konzept klingt, war vor 20 Jahren ein mutiges Experiment.Und die Architektur? Ab welchem Maßstab kann sie nicht mehr improvisiert werden? "Architektur muss Vertrauen erwecken und Sicherheit abbilden", antwortet Ole Scheeren. "Auf der anderen Seite ist es ebenso wichtig, dass wir auf einer intellektuellen Ebene die Instabilität der Dinge verstehen. Das heißt nicht, dass ein Gebäude in-stabil ist, sondern dass sich Nutzungsschemen und Verhaltensmuster mit der Zeit verändern. Diese Form der Veränderung bringt den Gedanken von Instabilität oder Improvisation mit sich. Es ist entscheidend, dass Räume Zukunft zulassen. In diesem Sinne ist das Verständnis von Improvisation wichtig für die Architektur."Die Ausstellung "Spaces of Life" blickt in unsere Zukunft. Es ist eine Antwort auf die Frage, wie sich Architektur anders konfigurieren lässt, um neue Möglichkeiten zu schaffen. Wie können wir festgefahrene Modelle anders denken? Und anders bauen?
Ole Scheeren
1971 in Karlsruhe geboren, studierte er nach einer Chinareise u. a. an der Architectural Association School of Architecture (AA) in London. Von 2002 an war er Partnerarchitekt bei OMA, bis er 2010 sein eigenes Büro Ole Scheeren gründete. Seit 2015 hat er neben Standorten in Peking, Hongkong und London auch ein Büro in Berlin und zählt heute insgesamt über 110 Mitarbeitende. Zu seinen bekanntesten Projekten gehören "The Interlace" in Singapur (2014) und das Hochhaus "Maha Nakhon" in Bangkok (2018).
Das ZKM zeigt die erste große Einzelausstellung zum Werk des Architekten Ole Scheeren vom 10. Dezember 2022 bis 4. Juni 2023. Wie können mit Architektur von heute Prototypen für das Leben von morgen geschaffen werden?