Rotterdam: Eine Architekturmetropole im Wandel
Zwischen Wolken und Wasser wachsen Wunder aus Stahl, Holz, Glas und viel Grün. Die Hafenstadt an der Maas hat eine „Floating Farm“ und ein schwimmendes Büro, die größte Markthalle der Welt, und im Zentrum sollen in den nächsten 25 Jahren 48 Wohnhochhäuser gebaut werden. Gleichzeitig entstehen neue Parks auf den Dächern oder den Gleisen eines alten Bahnviadukts. Wie Rotterdam sich neu erfindet.
Die Reise dauert 31 Sekunden. Dann schieben sich die Türen lautlos zur Seite und die Ohren verspüren einen leichten Druck, denn man steht am höchsten Punkt von Rotterdam. Die Architektin Eline Strijkers lächelt verheißungsvoll, als sie die Tür in den lichten Raum auf der 57. Etage des De Zalmhaven öffnet. Hier oben stehen wir auf Augenhöhe mit dem Horizont. In den beiden obersten Geschossen von Rotterdams größtem Wohnhochhaus und mit 215 Metern auch dem höchsten Bauwerk der Niederlande laufen die Bauarbeiten auf Hochtouren, damit das hochgradig exklusive und einzigartige Restaurant Celest an diesem besonderen Ort im Dezember 2024 eröffnen kann. Inspiriert von Edgar Allan Poes Geschichte „Das unvergleichliche Abenteuer eines gewissen Hans Pfaall“ entwickelte das Rotterdamer Studio Doepel Strijkers eine mystische Erlebnisgastronomie mit einem schwebenden, Zweieinhalb-Meter-Mondglobus für die kunstvollen Gerichte von Küchenchef Lars Drost, niederländischer Gewinner des Bocuse d’Or 2017.
Fahrt zum Mond
Eline Strijkers, die ebenso als Architektin wie als Innenarchitektin arbeitet, hat sich für den Weg nach oben eine immersive Mondfahrt ausgedacht: eine metaphorische Reise in eine andere Welt, entkoppelt vom Alltagsleben, aber mit einem 360°-Panorama vom Kopf des Zalmhaventoren auf die Hafenstadt. Bei gutem Wetter gibt es vom 57. Geschoss aus sogar freie Sicht bis Antwerpen. Celest wird in Rotterdam eins der ersten größeren Rooftop-Restaurants sein, also ein echtes neues Highlight für die aufstrebende Metropole an der Maas. Dahinter stecken die Betreiber des Euromast: ein Hotel und Restaurant in der Ikone von Architekt Hugh Maaskant aus den frühen Sechzigerjahren. Der Aussichtsturm wurde damals anlässlich der „Floriade“ gebaut und gilt mit 185 Metern nach De Zalmhaven als zweihöchster Bau des Landes. „Es wird schon in fast jedem neuen Hochhaus zu Beginn ein Restaurant in den oberen Etagen geplant“, erzählt Emiel Arends. „Aber meistens scheitert es dann an der notwendigen zweiten Erschließung, die man für diese öffentliche Nutzung in einem Wohnhochhaus benötigt – also am Budget“, ergänzt er, als wir zusammen mit Eline Strijkers an den Panoramafenstern entlangschlendern.
Unter den Wolken
Das Hochhaus ist in Rotterdam ein Imperativ. Emiel Arends kennt sich bestens aus. Er ist seit über 20 Jahren Rotterdams Stadtplaner, Hochhausexperte und Autor des Buches „City Without Fear of Heights: The Development of a European High-Rise Typology“ (2023) – also ein Protagonist, der die Stadt mitgeprägt hat. Und der jetzt beim gemeinsamen Besuch im De Zalmhaven nicht nur das zukünftige Restaurant erkunden kann, sondern auch den Rundumblick auf Rotterdam und diese sagenhafte Skyline: von der ikonografischen Erasmusbrücke, die nach dem Entwurf des damals noch jungen Architekten Ben van Berkel 1994 bis 1996 als Verbindung über die Nieuwe Maas gebaut wurde und damit den neuen Stadtteil auf der Halbinsel Kop van Zuid und dahinter überhaupt erst erschlossen hat; weiter zum De Rotterdam, ein Hochhauskomplex von OMA unter der Leitung von Rem Koolhaas, der 2013 in direkter Nachbarschaft vom Wohnturm New Orleans (2009) von Álvaro Siza Vieira und all den anderen Türmen von Norman Foster, Renzo Piano und Mecanoo gebaut wurde. Bis 2008 wartete am Ende von Kop van Zuid nur (und fast etwas einsam) das legendäre Hotel New York, auch für RotterdamerInnen immer noch ein beliebtes Restaurant und Ausflugsziel.
Ebenso hat die nördliche Seite in Richtung Rotterdam Centraal Station (Architektur: Benthem Crouwel) doch vor allem Hochhäuser zu bieten, während sich östlich der Megabau Markthal von MVRDV neben Piet Bloms Kubuswoningen (1984), dem Blaaktower und der Zentralbibliothek (Architektur: Van den Broek & Bakema mit Hans Boot) gruppiert. 2025 soll das von der hiesigen Bevölkerung so genannte Centre Pompidou Rotterdams unter Leitung von Powerhouse Company, Atelier Oslo und Lundhagem saniert werden. Die Hafenstadt wächst nicht nur, sie kümmert sich auch um ihr gebautes Erbe.
2025. Das nächste Jahr kündigt sich in Rotterdam – geplant oder zufällig – als großes Architekturjahr an. Im Sommer wird das niederländische Fotomuseum, das gerade in das sanierte Pakhuis Santos am Hafen einzieht, seine Tore öffnen. Ursprünglich wurde der denkmalgeschützte Kaffeespeicher (Baujahr 1901) vom Hamburger Büro Renner Hainke Wirth Zirn Architekten und dem lokalen Studio WDJArchitecten für die Stilwerk-Gruppe umgebaut. Mit dem Nederlands Fotomuseum konnte nach deren Verkauf ein passender Nutzer für das Monument gefunden werden.
Architekturzoo Rotterdam
Großes Highlight wird die Eröffnung von Fenix, eine silberglänzende Spirale auf dem Dach der alten Hafenlagerhalle von dem chinesischen Stararchitekturbüro MAD, die ebenfalls auf der Halbinsel Katendrecht am Rijnhaven entsteht. Hier wird ab nächstem Frühjahr das Major New Migration Museum seine erste Ausstellung präsentieren.
Weiter draußen, am äußeren Ende vom Europoort, haben MVRDV mit Portlantis ein neues Besuchs- und Informationszentrum für den Rotterdamer Hafen entworfen, von dessen Dach aus man über das Meer blicken kann. Auch hier soll im Frühling 2025 alles für die ersten Gäste fertig sein. Verglichen mit Großprojekten wie der Markthal, die gerade ihr zehnjähriges Jubiläum feiert, wirkt Portlantis fast etwas klein, steht aber für das gleiche konzeptuelle Storytelling. Lediglich eine Typologie fehlt noch im Portfolio von Rotterdams Superdutch-Starbüro. MVRDV haben bisher noch keinen Wolkenkratzer in ihrer Heimatstadt gebaut! Entwürfe gibt es schon, wie die Planung für The Sax. Nur steht das Projekt seit 2018 „on hold“.
Der Rohbau von SAWA sieht hingegen schon fast fertig aus. Zwischenstopp im Lloydkwartier, das sich in den letzten 15 Jahren von einem industriellen Hafengebiet zum beliebten Wohnviertel entwickelt hat. Jede Woche wächst die Holzkonstruktion aus Brettsperrholz ein Geschoss in die Höhe, im Herbst 2025 sollen die Wohnungen bezugsfertig sein. Die stufenförmigen begrünten Terrassen erinnern an die abgetreppten Reisfelder östlicher Sawa-Landschaften, was dem Pionierprojekt seinen Namen gab. Denn: SAWA ist mit 50 Metern eins der ersten Wohngebäude aus Holz in voller Höhe in Rotterdam, also ein Projekt, das europaweit für Aufregung sorgen dürfte
Entwurf, Planung und Ausführung liegen beim lokalen Büro Mei architects and planners, die das energieneutrale Wohnhochhaus unter der Firmierung Nice Developers auch entwickeln, vermieten und verkaufen. Wie genial: Durch diese Mehrfachrolle bleiben alle nachhaltigen Kriterien des ambitionierten Bauvorhabens garantiert. Schließlich ist SAWA nicht mehr und nicht weniger als „the healthiest building of the Netherlands“, so Projektarchitekt Robert Winkel. Das passt zum Experimentierfeld der Hafenstadt ebenso wie zur Lebensqualität. Denn von den 109 Wohneinheiten sind die Hälfte als preisgedämpfter Wohnungsbau vorgesehen. Diese typische Rotterdamer Mischung aus Eigentums- und Mietwohnungen verschiedener Preisklassen bildet in den Wohnhochhäusern vielfältige Gemeinschaften, unterstützt von Community-Angeboten wie Shared Mobility oder gemeinschaftlichen Nutzungen wie ein Reparaturraum und ein Gemüsegarten für alle im Innenhof.
Gegenüber der Baustelle empfängt das begehbare CLT-Mockup einer Wohnung Interessierte und Fachpublikum. Die Akustik im Raum ist beeindruckend angenehm, schön hier! Als Nächstes wünschen sich Mei architects, dass auch Standardentwickler nachhaltigen Holzbau realisieren, weil sie darin einen Wert sehen, der größer ist als der Gewinn, den Excel-Tabellen versprechen. Die klimagerechte Architektur SAWA ist der gebaute Beweis, dass Neubau auch anders geht.
Häuser gehen baden
Mit dem Wasserbus geht es für uns vom Lloydkwartier zurück zum Rijnhaven, wo das kalte Wasser im Hafenbecken in der Septembersonne funkelt. Hier zwischen den Hochhäusern von Kop van Zuid und Katendrecht schwimmt das Architekturbüro Powerhouse Company – und in den Pausen, vor oder nach der Arbeit auch die ArchitektInnen. Dank Ebbe und Flut bleibt die Wasserqualität im Rijnhaven rund um das Floating Office immer im grünen Bereich. Die Badestelle am Steg ist übrigens typisch niederländisch: offen für alle.
Nanne de Ru hat sich ebenfalls einem möglichst nachhaltigen Bauen verpflichtet und bringt die Projekte, die sein Büro bearbeitet, mit der Entwicklerfirma RED selbst zum Leben. Zusammen mit seiner Partnerin Nolly Vos und einem rund 100-köpfigen Team prägt Powerhouse Company die Identität von Rotterdam seit 20 Jahren mit. Im Cool-Viertel werden bald die Bauarbeiten für den Baan Tower beginnen (159 Meter, 427 Wohnungen, davon nach dem Rotterdamer Modell 30 Prozent im mittleren Segment). Für die Droom en Daad- Foundation (ein wichtiger Auftraggeber in Rotterdam) haben Powerhouse Company im Sommer 2024 eine Kirche aus der Nachkriegsmoderne in eine Musikschule umgebaut.
Rotterdam versteht der Architekt als eine extrem lebenswerte und unvergleichbare Metropole. Die Stadt habe eben keinen historischen Kern wie Amsterdam oder Paris, betont er, während im Floating Office gerade Produkte für das benachbarte Restaurant Putaine angeliefert werden. De Ru merkt an: „Rem Koolhaas sagte einmal, als Provokation oder eine Art Gedankenexperiment, wenn es eine Stadt in den Niederlanden gebe, die wir abreißen könnten, dann sei es Rotterdam. Rotterdam ist unprätentiös und war schon immer die Stadt eines pragmatischen und brutalen Wandels.“ Er lacht: „Was heute zu einer echten Qualität wird: Rotterdam will nicht perfekt sein, sondern ein Ort, an dem Experimente möglich sind.“ Experimente wie ein schwimmendes Büro. In das der Architekt im Erdgeschoss den befreundeten Chefkoch Michael Schook vom Restaurant Héroine einquartiert hat. Mit Blick übers Wasser auf all die Hochhäuser ist Putaine der perfekte Ort für Fine Dining.
The Sky is the Limit
Woher kommt in Rotterdam eigentlich dieser Drang, in die Höhe zu bauen? Über diese Kultur spricht man am besten mit dem Architekturexperten Harm Tilman, der gerade das Buch „Wolkenkrabberstad Rotterdam“ publiziert hat. Für ihn hat die Sehnsucht, in den Himmel zu wachsen, viel mit der Mentalität zu tun, die wiederum eng mit dem Hafen verbunden ist. Der Port of Rotterdam liegt nicht mehr zentral in der Innenstadt, sondern erstreckt sich heute als Drehkreuz des europäischen Seehandels mit 28 000 See- und 90 000 Binnenschiffen pro Jahr an der Nieuwe Maas entlang bis zur Nordsee. Für die Niederlande bedeutet der Rotterdamer Hafen mehr als 500 000 Arbeitsplätze und eine Wertschöpfung von über 60 Milliarden Euro, was 3,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht.
Damit sich die Mitarbeitenden und deren Familien in Rotterdam wohlfühlen, wurde in den letzten Jahrzehnten hochwertiger, leistbarer Wohnraum geschaffen. Gleichzeitig wurden Parks, Spielplätze, Schulen und Kindergärten und der öffentliche Nahverkehr ausgebaut. Für die Wohnhochhäuser gilt die Regel, dass sich in einem Radius von 400 Metern eine U-Bahn- oder Straßenbahnhaltestelle befinden muss. Harm Tilman hat für sein Buch viele verschiedene BewohnerInnen besucht und interviewt, die stolz auf die Skyline von Rotterdam sind. Hinter jeder Tür empfing ihn ein eigener Kosmos, ganz anders als in den Nachbarwohnungen. Tilman ist in Rotterdam geboren und aufgewachsen, er wohnt selbst im Hochhaus. „Diese Fähigkeit Rotterdams, sich neu zu erfinden, das fand ich immer erstaunlich“, sagt er. Einer seiner Lieblingsorte in der Stadt? Überall dort, wo er aufs Wasser und die Gezeiten blicken kann – wie er es als Kind schon tat, wenn er auf die Rückkehr des Vaters, ein Seemann, wartete. Und er liebt das De Rotterdam von Rem Koolhaas: ein Hochhaus nicht als Turm, sondern als Scheibe, mit „einer Fassade mit Schnitten wie ein Gemälde von Lucio Fontana“, schwärmt Harm Tilman.
Grüne Hoffnungen
Ein Macher und Denker wie Rem Koolhaas, der 1944 in Rotterdam geboren wurde, und das Trio Winy Maas, Jacob van Rijs und Nathalie de Vries von MVRDV (2012 die ersten Preisträger unseres Awards AW Architekt des Jahres) haben die zeitgenössische Architektursprache in Rotterdam seit den 1990er-Jahren dominiert. Mittlerweile entwickeln auch neue ProtagonistInnen aus Architektur und Landschaftsplanung die Zukunft der Metropole mit. Wie zum Beispiel die LandschaftsplanerInnen von De Urbanisten. Im Keilehaven wurde im Sommer 2024 der experimentelle Tidal Park, eine künstliche Landschaft für Ebbe und Flut, eröffnet; in der Innenstadt beginnen 2025 die Bauarbeiten für den Hofbogenpark auf dem Viadukt einer ehemaligen Eisenbahnlinie: zwei Kilometer Grün für die Stadt!
Urbane Natur ist auch ein Anliegen von Saskia van Stein, Kuratorin der Internationalen Architekturbiennale Rotterdams. 2024 konzentriert sich ihre Ausstellung mit dem Titel „Nature of Hope“ auf die Frage, wie die Architektur das ökologische Gleichgewicht wiederherstellen kann. Biologische Vielfalt und die Natur als Ausgangspunkt spielen auch in vielen Planungen für die Hafenstadt eine Hauptrolle. Dem Hitzestress in der Stadt sollen Parks und Grünanlagen entgegenwirken. Für Stein, die vor ihrer Zeit in Rotterdam in New York gelebt hat, ist es vor allem das neue Selbstbewusstsein, das ihre neue Wahlheimat heute ausmacht. „Rotterdam hat die Geschichte des Wandels einer Arbeiterstadt zu einer kulturell vielfältigen Stadt mit 174 Nationalitäten bestens erzählt“, sagt Stein. „In Rotterdam hat sich ein gewisser Stolz kultiviert.“ Kriege, Krisen und Flutkatastrophen zeichneten die Metropole an der Maas, die schon immer für Innovation und Wandel steht. Jeder Besuch in Rotterdam lässt eine neue Zukunft entdecken. •