Reiulf Ramstad Arkitekter: Erzählungen am Wegesrand
Bauen mit Seele, Verstand und der Natur als gleichberechtigtem Partner: Die unterschiedlichen Projekte des norwegischen Büros Reiulf Ramstad Arkitekter entspringen diesem Leitmotiv
Für einen Moment herrscht Stille. Die Wiesen, Weinberge und Wälder der elsässischen Ebene leuchten, und Facetten von Ockergelb bis Tannengrün färben die Umgebung. Wer hier am Hang des Odilienberges auf einer Aussichtsplattform gleich neben der Klosterruine der Gemeinde Saint-Nabor steht, blickt auf die Vogesen und zurück auf den Radwanderweg der Steinbrüche, wo schmale Pfade in Rostrot wundersame Schlaufen in die Landschaft zeichnen.
Über diesem Ausblick schwebt eine von einem Kleeblatt inspirierte Struktur aus Cortenstahl. Die Plattform, die vom norwegischen Studio Reiulf Ramstad Arkitekter (RRA) entworfen wurde, bildet das Ende der Route „Chemin des Carrières“. Diese war einhundert Jahre lang als Bahnstrecke genutzt worden, bis 2002 der verbliebene Güterverkehr eingestellt wurde und die Strecke in einen Dornröschenschlaf fiel. 2019 ist der Weg zurückerobert und die Topografie wieder erlebbar. Kurzum: Verwandlung gelungen. „Als wir mit dem Projekt beauftragt wurden, hatten die Bewohner der Dörfer zwischen Rosheim und Saint-Nabor so gut wie keine Verbindung mehr untereinander“, erinnert sich Reiulf Ramstad. Deshalb ist für den norwegischen Architekten die neu geknüpfte Gemeinschaft der französischen Dörfer der eigentliche Triumph seines Projektes. Dass die ehemalige Bahnstrecke inzwischen auch viele Touristen anlockt – ein attraktiver Nebeneffekt.
Kleine Gesten, große Geschichten
Die Architektur von RRA zeigt sich stets derart ortsverbunden. Reiulf Ramstad und sein Team begreifen ihre Architektur als unterstützenden Teil der Landschaft, als eine ebenso solide wie sensible Ergänzung der Topografie. Ihre Schönheit entwickelt sich mit ihrer Angemessenheit. Die Gebäude formen keine imposanten Gesten. Sie sind vielmehr Erzählungen am Wegesrand, die sich authentisch in eine große Geschichte einfügen. Auf einer Länge von elf Kilometern ist der „Chemin des Carrières“ eines der umfangreichsten Vorhaben des Osloer Architekturbüros.
Im Portfolio finden sich Sakralbauten, Schulen und Kindergärten, Museen und Besucherzentren, Wohn- und Ferienhäuser. Die Spannweite reicht dabei von kleinen Cabins bis zu einem 27-geschossigen Holzhybridbau, den RRA gerade zusammen mit den Kollegen vom Studio C.F. Møller Architects planen. Den Wettbewerb für das Hochhaus in Oslo hatte die Arbeitsgemeinschaft 2018 gewonnen, in Kürze wird gebaut. „Nordic Light“ soll ein Leuchtturm für nachhaltiges Bauen werden.
Wesen und Form
Außerhalb von Norwegen konnte sich das Studio bislang darauf verlassen, empfohlen zu werden. So wie bei einem Projekt im elsässischen Dorf Breitenbach. Ein Bio-Landwirt hatte angefragt, ob die norwegischen Architekten Hotelunterkünfte für sein Hanggrundstück entwerfen würden. Das Ergebnis sind 16 Holzhütten unterschiedlicher Größe und Form, die wie Bäume aus der Wiese erwachsen. Sie zwinkern den Betrachtern förmlich zu – als ob sie diese einladen würden, sie zu besuchen und näher kennenzulernen.
Entwerfen als Leidenschaft
Obwohl jeder Auftrag seinen eigenen Charakter bewahrt, formieren sich alle Bauwerke von RRA zu einer Familie. Die Plattform des „Chemin des Carrières“, die mit ihrem rauen Cortenstahl an die Relikte der Bahngleise erinnert, könnte die kleine Cousine des 2012 eröffneten norwegischen Küstenrastplatzes „Selvika“ mit seinen geschwungenen Betonrampen sein. Das dramatisch verwinkelte Volumen der Kirche im westnorwegischen Knarvik hat ähnliche spitze Winkel wie der Holzbau für das Romsdal Folk Museum in Molde oder das Besucherzentrum am Trollstigen-Plateau entlang der norwegischen Landschaftsroute des Geirangerfjords. Reiulf Ramstad: „Unsere Architektur-Kompetenz kann auf viele Orte übertragen werden. Das ist auch ein Grund, warum jedes Projekt anders aussieht. Wir wiederholen uns nicht.“
Seine eigene Biografie formt die Höhen und Tiefen einer Fjordlandschaft. Im Jahr 1994, als der junge Reiulf Ramstad gerade mit einem Doktortitel der berühmten Architekturschule Iuav aus Venedig in seine Heimat zurückgekehrt war, lernte er seine Frau Kristin kennen: „Ein Jahr später hatte ich ein Auto, ein Haus, ein Büro – und Zwillinge. Ich hatte keinen Businessplan, nur Leidenschaft.“
Lesen Sie das gesamte Porträt über Reiulf Ramstad Arkitekter in der AW Architektur & Wohnen Ausgabe 01/22
Buchtipp der Redaktion: Reiulf Ramstad Architects: Contours & Horizons, Hatje Cantz, 2018, Englisch, 400 Seiten, 80 Euro