Peter Pichler: Der Natur auf der Spur
Gute Architekten reisen leicht. Peter Pichler braucht praktisch nur seine Tasche, wenn er sich von seinem Büro in Mailand auf den Weg zum Flughafen Malpensa und von dort etwa nach Abu Dhabi macht, in die Wälder von West Virginia, nach Barra de Navidad in Mexiko oder hinauf in den Norden, an den Stienitzsee im Osten von Berlin oder nach Putbus auf der Insel Rügen. Das wichtigste Gepäck für den 1982 in Südtirol geborenen Architekten reist im Kopf mit: Er hat seinen Auftraggeber – Pichler spricht von "Kunden" – beschnuppert, hat lang und gründlich telefoniert, darüber gesprochen, was der andere für Gedanken zur Architektur hat, auf das Projekt bezogen, aber auch ganz allgemein, und hat seine eigenen Ideen dagegengehalten. Passt es? Geht da was? Ist es ein Mensch, mit dem man reden kann? Das genügt fürs Erste.
Peter Pichler: Individueller Entdeckergeist
Als Nächstes – und bitte bald! – will er den Bauplatz sehen, die Stelle, an der eine Villa mit Blick auf einen See errichtet werden soll, das Hauptquartier einer Firma, ein Hotel, ein Baumhaus, eine Berghütte. Pichler geht also auf Reisen. Bleibt gern ein bisschen länger, denn immer ist auch die Umgebung zu erkunden, die Bautradition, die einen Ort geprägt hat, das Material, das eine Gegend bereithält oder erfordert, die Kultur, das Klima. Brauchen sie Panoramafenster in der arabischen Wüste? Wie geht der Wind über die Südtiroler Weinberge? Und wie schützen sie beim Autoteilehersteller Bonfiglioli in Bologna die Arbeitsplätze am Bildschirm vor gleißendem Sonnenschein? Indem der Architekt die Nordfassade des Hauptquartiers in einer kühnen Geste nach oben reißt und allen Büromenschen diffuses, angenehmes Nordlicht an den Arbeitsplatz leitet. Wer mag, darf in dem spitz aufragenden Dach, das aus diesem Kunstgriff resultiert, auch noch den Zacken aus einem Zahnrad erkennen. Aber der Architekt besteht nicht darauf. Fest steht nur: Dieser Peter Pichler ist keiner, der sich den Koffer mit fertigen Lösungen vollstopft.
Peter Pichlers Lehrjahre bei Zaha Hadid
"Natürlich", sagt der bärtige, locker auftretende Architekt, winkt ab und lacht. "Wer bei uns anruft, hat meist schon einen Eindruck von unseren Projekten." Hat schon etwas gesehen oder gehört und vielleicht so etwas wie eine Handschrift erkannt, einen Stil. Ob er den bei Zaha Hadid gelernt hat? Er lacht gleich wieder. Das war damals in Wien; die bärenstarke Irakerin, die erste Frau, die mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet wurde, muss eine tolle Professorin gewesen sein – aber gewiss keine, die sich ihre Meisterschüler nach dem eigenen Vorbild zurecht schliff. Nein, um Offenheit sei es gegangen, erzählt Pichler, um die Freude am Experimentieren, darum, die Möglichkeiten des Materials bis an seine Grenzen auszutesten, und für ihn selbst auch um das faszinierende Erlebnis, ein Team von Könnern zur Arbeit an einem Projekt zu koordinieren.
Peter Pichler: Vielfalt auf allen Ebenen
Es ist schon das zweite Mal, dass Pichler sich auf die Psychologie als Werkzeug seiner Architektur beruft. Sein Einfühlungsvermögen, die Qualität eines Moderators, die Fähigkeit zu inspirieren braucht er ja nicht nur im Austausch mit den Kunden – sondern auch zur Abstimmung mit denen, die gemeinsam an einem Projekt arbeiten. 15 Kolleginnen und Kollegen sind es in seinem Büro, einem behutsam renovierten Käselager nahe dem Naviglio-Kanal in der Mailänder Innenstadt; kommen aus Brasilien und Dänemark, Deutschland, Argentinien und der Türkei. Und die Vielfalt ist Programm: nur keine Architektur, die sich auf den ersten Blick als Marke zu erkennen gibt, nur keine Standardlösungen ohne Rücksicht auf den Auftraggeber, seine Bedürfnisse, die Kultur, die Traditionen und die spezifischen Bedingungen des Ortes. Die Wände seines Wohnhauses in Mexiko? Kacheln natürlich, große Ornamente, weil die hier einfach dazugehören.
Widerspruch gegen den Zeitgeist
Der Begriff Umgebung soll seine sinnliche Qualität entfalten. Damit beginnt jedes Projekt. Vielleicht dient das Vorbild mancher Lehrperson auch dazu, es als Schüler eben anders zu machen. "Bei uns ist es offener", grenzt er sich ab. "Der Kunde weiß nie im Voraus, was er bekommt – weil wir es ja erst gemeinsam entwickeln." Und doch legt Pichler Wert darauf, dass er immer erst einmal persönlich die Nase in den Wind hält. So war es auf dem Weingut Kastelaz bei Tramin, 2018 ausgeschrieben in einem Wettbewerb.
Die Aufgabe: eine Villa für die Familie des Gutsbesitzers, mit Blick über die Hänge am Kalterer See, aber in einer Architektur, die sich dezent in die Umgebung einfügt. Das Problem: die Ora, ein Wind, der vom Gardasee Richtung Norden weht, und zwar kräftig. "Wir standen also dort oben", erinnert sich der Architekt an das erste Treffen mit dem Bauherrn. "Es war August oder September, angenehm warm noch, aber wir wären fast weggepustet worden." Die Lösung drängte sich förmlich auf: Das Büro entwarf einen flachen, eleganten Bau, der sich wie ein geschwungenes Band um einen geschützten Innenhof legt und zugleich aus großen Panoramascheiben die Fernsicht über das weite Tal der Etsch öffnet. "Sie sehen also", sagt Pichler und triumphiert. "Mit branded architecture, einer Architektur von der Stange, wären wir an dem Problem gescheitert."
"Der Kunde weiß nie im Voraus, was er bekommt – weil wir es ja erst gemeinsam entwickeln."
Mailand als Mittelpunkt von Peter Pichler
Lassen solche Projekte Raum für eine Handschrift, für das, was Pichler ganz unumwunden als seinen Stil bezeichnet hat? "Wir haben unseren Anspruch auch an Schönheit und Harmonie", stellt er für sich und seine Kollegen klar, "absolut!" Nicht von ungefähr ist er aus der imposanten Bergwelt seiner Heimat ins elegante Mailand gezogen, um hier 2015 mit seiner aus Mallorca stammenden Ehefrau Silvana Ordinas das Büro zu eröffnen. Sicher, die Anbindung an den Rest der Welt, drei Flughäfen, der Reichtum der Stadt, die große Zahl von Architekturbüros und jungen Designern, Austausch, Inspiration und Wettbewerb: Das alles habe auch seine Rolle bei der Wahl des Ortes gespielt. Mindestens ebenso wichtig aber war das allgegenwärtige Gefühl einer Identität, einer kulturellen und historischen Tiefe, der Dom, die Kunstakademie."Ich bin fest davon überzeugt", sagt der Architekt, und es klingt, als wolle er dem Zeitgeist mal entschieden vors Schienbein treten, "dass ein Gebäude nicht nur nachhaltig sein soll. Es muss auch ein Bedürfnis nach Ästhetik ansprechen."
Regionale Baustoffe – für Peter Pichler unentbehrlich
Holla! Mutig! Also keine mit Bäumen bedeckten Hochhausfassaden, wie der Kollege Stefano Boeri sie als weithin sichtbares Monument einer grünen Architektur auf der anderen Seite der Stadt hochgezogen hat? Pichler winkt ab, und er wirkt beinahe ärgerlich: "Der senkrechte Wald ist Kulissenarchitektur", sagt er. "Bäume wachsen nun mal nicht auf Wohntürmen." Nein, Nachhaltigkeit buchstabiere sich anders. Holz ist ein gutes Beispiel. "Wir bauen sehr gerne damit", sagt er, "dort, wo das Material vertraut ist und wo es nachwächst."
Auf Abu Dhabi trifft das eher nicht zu. Also verzichtet Pichler für die großzügigen Villen, die dort nach den Plänen seines Büros entstehen, auf den traditionellen Baustoff seiner eigenen Heimat und verwendet Beton, dessen Geschlossenheit er durch Gitterstrukturen aufbricht, Ornamente nach Vorbildern aus der Region. So bleibt die Luft zwischen den Baukörpern in Bewegung, kühlender Halbschatten bricht das grelle Sonnenlicht in den geschützten Innenhöfen. Nur nicht doktrinär denken. "Ich bin auch kein gedankenloser Beton-Fan", meint Pichler vorbeugend, "aber ich registriere die Fortschritte der Materialforschung – und auch bei der Produktion von Stahl mithilfe umweltfreundlicher Wasserstoff-Technologie tut sich was."
"Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Gebäude nicht nur nachhaltig sein soll. Es muss auch ein Bedürfnis nach Ästhetik ansprechen"
Der Ort selbst gibt Form und Material vor
So lässt es sich reisen. Am stillen, grünen Ufer des Stienitzsees bei Rüdersdorf in Brandenburg entsteht eine Villa aus dunkel gebranntem Ziegel, und auch die Gliederung der Fassade in vier unterschiedlich hohe Spitzgiebel nimmt Bezug auf die alte Ziegelei, die einst die Tonerde aus der Gegend verarbeitete. Zum See hin aber ist alles offen, riesige Panoramafenster bis unter den Dachfirst. In seinem Kampf um die ästhetischen Qualitäten der Umgebung duldet der Architekt keinen Kompromiss mehr. Respekt vor der Natur erwächst aus der Bewunderung ihrer Schönheit. So am Faaker See bei Villach in Kärnten: Kein Stück Architektur schiebt sich vor den Blick aus den Fensterbändern des Apartmentkomplexes Cloud P auf das leuchtende Türkis des Wassers.
So im Berggasthof Oberholz, dessen Holzkonstruktion wie Wurzelwerk aus dem Felsmassiv des Latemar in den Dolomiten herauszuwachsen scheint. Und so am Dawson Lake im US-Bundesstaat West Virginia, wo sich luxuriös ausgestattete Hotelsuiten mit spitzem Dach hoch über die Wipfel der Bäume erheben. Sieht lustig aus, beinahe wie ein Wald aus beleuchteten Zipfelmützen, aber das Erlebnis der Natur vor den voll verglasten Wänden ist einfach, nun ja: erhaben. Das ist Pichlers Technik: Er inszeniert keine Natur, er sucht sie auf. Findet die schönsten Plätze, öffnet spektakuläre Perspektiven – und vertraut auf das Moment der Überwältigung. Strickpullover und klobiges Schuhwerk sind erlaubt, aber keine Voraussetzung, um beim Anblick solcher Schönheit einfach mal kurz den Atem anzuhalten.