Neue Gruppendynamik: Neubau in der Kurfürstenstraße in Berlin
Die urbanen Weiten der Metropolen
Die Kurfürstenstraße ist ein hartes, vielleicht sogar das heißeste Pflaster im Berliner Westen. An der Ecke zur Frobenstraße steht jetzt zwischen dem historischen Solitär der Berliner Hochschule für Technik (BHT) mit seiner klassischen Erscheinung und einem bunt fassadigen aufgefrischten Wohnungsbau der Achtzigerjahre die Zukunft des Wohnens. In den Aluminiumoberflächen und Profilen spiegeln sich überlagerte Szenerien aus New Living und Straßenstrich: Lastenräder mit Kind und Kegel schweben zügig vorbei in Richtung Gleisdreieck-Park und überholen einen einsamen Porsche-Fahrer, der die Kurfürstenstraße – ausschauend nach einer Begleitung – im Schritttempo hoch und runter fährt. So viel Gleichzeitigkeit bei der Suche nach dem Glück findet man nur in den urbanen Weiten der Metropolen.
Neubau in der Kurfürstenstraße: June14
June14 Meyer-Grohbrügge & Chermayeff nennen sich die Architekten, die diesen vielversprechenden Neubau auf dem ehemaligen Parkplatz eines Gebrauchtwagenhändlers entworfen haben. Mit ersten Planungen für ihre überaus ambitionierte Baugruppe hatten die deutsche Architektin Johanna Meyer-Grohbrügge und der New Yorker Architekt Sam Chermayeff bereits 2013 begonnen. Was gut werden soll, braucht Weile. Erst 2016 konnte der Bauantrag eingereicht werden, 2019 folgte eine kritische Situation, die fast ein Ende des Projekts bedeutet hätte. Dank aller Kräfte und jeder Menge Optimismus konnte dieses Tief überwunden werden und im Frühling 2022 konnten 20 Wohnungen, die drei Gewerbeeinheiten und das Atelier bezogen werden.
Hunderte Optionen für die perfekte Lösung
Die Baugruppe in der Kurfürstenstraße folgt einem radikalen architektonischen Ansatz und ist im Grunde eine gebaute Studie. Das Team von June14 hat den Wohnungsbau mithilfe von etlichen Modellen entwickelt, um sich der Problematik des Eckgrundstücks und dessen Nord-Süd-Ausrichtung anzunähern. Die Methode ermöglicht ein ergebnisoffenes Entwerfen und Suchen, was Johanna Meyer-Grohbrügge und Sam Chermayeff während ihrer Zeit im japanischen Büro SANAA gelernt haben: Es wird nicht die perfekte Lösung gesucht. Bei den Projekten werden vielmehr Hunderte von Optionen durchdacht. Weil sie sich bei dieser Vorgehensweise nicht festlegen müssen, gelingt es ihnen, über die eigenen Grenzen hinauszudenken.
Für die Bedürfnisse der Familien: Neubau in der Kurfürstenstraße
„Uns war sehr wichtig, dass sich der Aspekt des Teilens in der Baugruppe abbildet“, betont Johanna Meyer-Grohbrügge. „Es sollten nicht einfach nur private Wohnungen unter einem gemeinsamen Dach werden und im Erdgeschoss gibt es dann noch einen Gemeinschaftsraum.“ Auch wenn die Baugruppe lange als Avantgarde urbaner Wohnformen galt, kann diese Form von Architektur in der Realität enttäuschen. Die Anforderungen sind vielfältig. Und Familie definiert sich heute weitaus offener als früher. Die gewohnte Aufteilung von Küche, Bad, Wohn-, Schlaf- und Kinderzimmer bedient nicht mehr alle Bedürfnisse der Eltern und auch nicht mehr die Wünsche der Kinder. Andere Grundrisse müssen her.
Entwerfen mit Optionen
Sam Chermayeff und Johanna Meyer-Grohbrügge suchten nach einer Struktur, die ein Zusammensein und Teilen ermöglicht. Und die so offen ist, dass sie verschiedene Bedürfnisse stillen und an zukünftige Anforderungen angepasst werden kann. „Am Ende haben wir zwei Optionen ausgearbeitet, die sehr unterschiedlich waren, und jeweils anhand von großmaßstäblichen Modellen der Baugruppe vorgestellt“, erinnert sich Meyer-Grohbrügge. Die Abstimmung in der Gruppe fiel eindeutig aus.
Neue Gruppendynamik: Struktur mit Zukunft
Wer heute vor dem Neubau in der Kurfürstenstraße steht, kann die einzelnen Wohnungen nur schwer erahnen, weil sich die Einheiten miteinander verschränken. Es gibt keine Wohnungen, die sich gleichen. Ein weiteres Ziel der Architekten war es, Privatheit nicht durch Wände herzustellen. „Die Wohnungen sind eigentlich durch Räume geteilt“, erläutert die Architektin. So bleibt die Struktur des Hauses offen und anpassungsfähig. Jede Wohnung hat anders als ein Berliner Altbau extreme Räume und gliedert sich in ein doppelgeschossiges offenes Loft und niedrige kleine Zimmer. Durch verschiedene Niveaus innerhalb einer Wohneinheit ergibt sich die jeweilige Privatheit. Möbel gliedern den Raum, bilden Inseln, manche Bewohner haben auch zusätzliche Plattformen eingezogen.
Der Neubau in der Kurfürstenstraße ist ein Abbild
In seiner Materialität ist es ein eher einfaches Gebäude. Der Innenausbau ist bewusst sehr roh ausgeführt. Eine Herausforderung war die Fassade: Diese sollte nicht zu kleinteilig werden und musste gleichzeitig den geforderten Schallschutz gewährleisten. Weil Glas im gewünschten Format zu schwer geworden wäre, wurden die öffenbaren Fenstereinheiten mit leichteren Aluminiumpaneelen ausgeführt. Ihre geschlossene Fläche unterbricht die Offenheit des Hauses und ist von irritierender Klarheit. „Ganz viel ist der Gruppe zuzuschreiben“, hebt die Architektin hervor. „Sie hat das Projekt mitgetragen.“ Als 2012 die drei Baufelder von dem Autohändler erworben wurden, sah die Wirklichkeit noch anders aus. „Es war die Zeit, als so etwas in Berlin noch möglich war“, sagt Johanna Meyer-Grohbrügge. June14 teilte die drei Grundstücke mit den Architekten Bolles+Wilson aus Münster, die an der Frobenstraße eine eigene Baugruppe entwickelt haben. Angesichts der aktuellen Marktsituation sind solche Projekte in Berlin leider nur noch schwer umzusetzen. Der Neubau ist ein Abbild der Vergangenheit. Aber er wird zum Vorbild für andere Städte. Auf dem Dach wächst übrigens ein Gemeinschaftsgarten.