Architektur
Symphonie aus Stahl und Glas

Hamburger Elbphilharmonie

Datum17.01.2020

Die Hamburger Elbphilharmonie war DAS architektonische Ereignis in Deutschland 2017. Seitdem leuchtet der schwungvolle Bau als neues Wahrzeichen der Stadt. Der Klang im Saal ist atemberaubend.

Selten sind die Gebäude, die uns Staunen lehren. Die Hagia Sophia in Istanbul mag dazugehören, die gotischen Kathedralen in Frankreich oder einige Bauten von Frank O. Gehry. Und nun also die Elbphilharmonie, ein Konzerthaus, das im pragmatischen Hamburg steht und dort ausgerechnet auf einem alten Speicher im Hafen. Tatsächlich ist die „Elphi“, wie sie liebevoll genannt wird, ein unwahrscheinliches Gebäude. Das räumt sogar Jaques Herzog ein, einer der Architekten. Was umso mehr erstaunt, als sein Büro Herzog & de Meuron schon titanische Projekte wie das Olympiastadion in Peking, die Allianz Arena in München und das Museum Tate Modern in London realisiert hat. Was könnte so erfahrene Architekten noch überraschen?

Hamburg konnte es. „Das ganze Projekt passierte beinahe aus Zufall, durch die Idee von Einzelnen“, resümiert Jaques Herzog die dreizehnjährige Planungsgeschichte. „So eine Sache kann man nicht in einem Wettbewerb gewinnen, und vielleicht sind wir sogar die letzte Generation von Architekten, die eine solche Chance bekommen hat.“ Und er sagt auch: „Manchmal dachten wir, dass dieses Gebäude unsere ganze Karriere zerstört. Wir fühlten uns ja auch irgendwie verantwortlich für die Probleme und Diskussionen während der Bauzeit. Wir hatten die Menschen mit dem Design verführt.“

Tatsächlich stand am Anfang nur ein Bild, eines dieser suggestiven Renderings, mit denen Träume verkauft werden. Leuchtende Fenster im Abendlicht, magische Atmosphäre, erhabene Größe – das Rezept wirkte auch hier, und zwar so überzeugend, dass die Hamburger Bürgerschaft gleich einstimmig für das Projekt stimmte. Im Hafen, am Eingang zum neuen Quartier der Hafencity, sollte die Stadt ein mächtiges Ausrufezeichen bekommen, ein wellenförmig sich aufschwingendes Etwas, das die Hansestadt in der City- und Tourismuskonkurrenz gleich mehrere Stufen nach oben katapultieren sollte. Was folgte, war zunächst nicht spektakuläre Architektur, sondern spektakuläres Missmanagement. Die Kosten explodierten, und das Konzerthaus verwandelte sich vom Hoffnungszeichen zum Skandal. Verschwendung und politisches Versagen stand in großen Lettern darüber.

Doch davon spricht heute nur noch eine Minderheit. Das Konzerthaus ist eröffnet und der unwahrscheinliche Fall eingetreten: Das fertige Gebäude ist noch großartiger, als die Bilder von einst suggerierten. So sagt es der Intendant, so bekräftigt der Bürgermeister Olaf Scholz. Der Mann ist nicht gerade für emotionalen Überschwang bekannt, doch als er der ersten Orchesterprobe im Saal beiwohnte, erkannte er in den Gesichtern der Musiker ein Strahlen: „Die waren nicht zufrieden, die waren erleuchtet!“ Und mit ihnen die Stadt und die Architekturkritiker der Welt, bis hin zur „New York Times“.

Was genau begeistert an dieser Architektur? Zunächst die zeichenhafte Größe, die mit der Symbolik von Wellen spielt – ein Motiv, das sich konsequent durch das ganze Gebäude zieht. Das Haus grenzt an drei Seiten unmittelbar ans Wasser. Die Architekten übersteigern dieses Element zu einer monumentalen Geste. Die Gestalt des Konzerthauses wirkt wie ein aus dem Fluss gestanztes Tortenstück, das sich nun, wie eingefroren, zu einer dramatischen Welle erhebt. Selbst die massive Unterseite des gläsernen Aufsatzes, betont Projektarchitekt Ascan Mergenthaler, ist gewellt.

Das Ganze spielt sich erstaunlicherweise auf einem Speicher aus den Sechzigerjahren ab. Dessen nüchterne Anmutung könnte keinen größeren Kontrast zu den Wellen bilden. Und doch vollbringt diese Kombination eine Versöhnung von Altem und Neuem, die die Spannung der Verschiedenheit nicht nur aushält, sondern ästhetisch überhöht. Die kleinteilig gewellte Fassade trägt ihren Teil zum Gesamteindruck bei. Je nach Lichteinfall wirkt sie mal solide, mal wie verflüssigt. An grauen Tagen solidarisiert sie sich mit dem Hamburger Wetter, an anderen funkelt sie goldenen Glitzer in den Sonnenuntergang – kaum eine Fassade interagiert so lebendig mit ihrer Umgebung – ein architektonisches Kunststück.

Den spröden Charakter des Sockels vergisst man gleich hinter dem Eingang. Die Besucher werden über eine 80 Meter lange Bogenrolltreppe in einen Lichttunnel hineingesogen. Da die Treppe wie auf einer Wölbung verläuft, bleibt ihr Ende zunächst verborgen. Es enthüllt sich in einer schwindelerregenden Inszenierung: Die Besucher werden vor einem wandgroßen und rahmenlosen Fenster ausgespuckt, das den Blick auf den Hafen inszeniert. Der Eindruck ist so intensiv, dass man meint, in den Fluss zu stürzen.

Danach geht es auf eine öffentliche Plaza, die nicht nur rundum Ausblick gewährt, sondern die die Dimensionen des Gebäudes noch einmal anders erfahrbar macht. Die Grundfläche beträgt 3100 m2, das ist so groß wie der Hamburger Rathausmarkt. Die Elbphilharmonie gleicht damit einer dreidimensionalen, teils labyrinthisch wirkenden Stadt, in der nicht nur drei Konzertsäle verstaut sind, sondern auch 45 Wohnungen, 500 Parkplätze, mehrere Restaurants und ein Fünf-Sterne-Hotel mit Swimmingpool und eigenem Kongresszentrum. Wer bis dahin noch nicht gewahr ist, dass die „Elphi“ ein Hightech-Gebäude ist, in dem neue und nie dagewesene Technologien bis an die Grenze des Möglichen ausgereizt werden, dem wird es spätestens hier deutlich.

Das gilt für die komplexe Statik auf dem alten Speicher – der gesamte Überbau wiegt 200 000 Tonnen. Das gilt aber auch für die silbrig glänzenden Fenster, die teils sphärisch aufgewölbt sind und auf Windlasten von bis zu 150 km/h getestet wurden. Und das ist schließlich gültig für den organisch geformten Konzertsaal, den man auf beschwingten Treppen von der Plaza aus erreicht. Weil man im Saal nichts vom Tuten der Ozeanriesen vor der Tür hören soll, wurde er als Raum im Raum angelegt und schalltechnisch komplett isoliert. Er lagert auf 362 Stahlfedern und senkt sich, wenn jeder Platz besetzt ist, um 1,5 cm ab.

Der Saal selbst erhebt sich in imposanten Rangkaskaden vom 12. bis zum 23. Obergeschoss hinauf – man befindet sich hier in einem Hochhaus. Die Akustik, so sein demokratisches Versprechen, soll auf den billigen Plätzen genauso gut sein wie auf den teuren. Keiner der 2100 Zuhörer sitzt weiter als 30 Meter vom Dirigenten entfernt, jeder hat gute Sicht. Der Preis dafür ist eine schwindelerregende Höhe, das Raumkonzept modernen Fußballstadien abgeschaut und auch vom Shakespear’schen Rundtheater inspiriert.

Die Verkleidung des Saals besteht aus 10 000 individuell gefrästen Gipsfaserplatten. Diese „Weiße Haut“ lenkt den Schall und optimiert den Klang. „Die aufgebrochene Oberfläche ist etwas, das schon im Barock für die Akustik entdeckt worden ist“, erklärt der verantwortliche Architekt Ascan Mergenthaler, Partner bei Herzog de Meuron. Damals waren es Rank-Elemente, die als Raumschmuck dienten. In der „Elphi“ sind es kleine, organische Rippen, die an Strandmuster bei zurückgehendem Wasser erinnern. Diese Form ist am Computer für die Akustik durchgerechnet, doch am Ende ästhetisch motiviert. „Der Akustiker Yasuhisa Toyota sagte uns: ‚Erfindet eine Oberfläche! Ich kann euch nur sagen, wie groß die Struktur darin sein muss.‘ Also haben wir sie aus konvexen und konkaven Formen entsprechend der Gebäudeform entwickelt.“ Und so schwappt die Welle – um im Bild zu bleiben – als Grundmotiv von der Fassade aus bis in den obersten Rang des Konzertsaales.

Es ist dieser durchgängige Wille zur Gestaltung, der die Exzellenz der Elbphilharmonie ausmacht. Der Wille zur großen Geste und Detailversessenheit, zu Poesie und Ortsbezogenheit. Der Wille auch, Fehler zu korrigieren, schmerzhafte Diskussionen durchzustehen und dabei das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Damit steht die Elbphilharmonie für etwas, das über den Horizont Hamburgs weit hinausreicht. Sie ist ein europäischer, ein westlicher Bau, der sich zu Kultur und Technik bekennt und ein Zeichen für die Leistungsfähigkeit der offenen Gesellschaft setzt. Ein Zeichen, das heute mehr denn je benötigt wird und eigentlich in Berlin stehen sollte. Doch dort baut man ein Stadtschloss mit historisierender Kulissenarchitektur in einer Stadtlandschaft, in der Zukunftswillen schon lange vermisst wird. Und so ist es nicht die Hauptstadt, sondern die Kaufmannsstadt Hamburg, die ein Bekenntnis ablegt für die Prinzipien, die Fähigkeiten und die Größe der westlichen Welt.