Die Sehnsucht, frei zu sein
Harte Schale, weicher Kern, der offene Raum schwingt sich quer zum Hang. Das Gästehaus des Südtiroler Architekten Martin Gruber erzählt von Freiheit: vom Suchen und Finden der freien Form.
Keine Linien, keine Skizzen. Martin Gruber beginnt seine Bauten allein mit Worten. In einem Text fasst der Architekt seine Ideen zusammen, beschreibt Atmosphäre. Wie soll ein Raum aussehen? Erst danach greift er zum Zeichenstift und entwirft. Auch Grubers Suche nach dem Wesen der freien Form folgte dieser Methode.
Als er im kleinen Weiler Verdings an der Hofstelle seines Großvaters ein Gästehaus für seine Frau und sich plant, verwandelt sich der Dialog zwischen Bauherrn und Architekt in einen Monolog. Die Auseinandersetzung findet allein in ihm selbst statt. "Ich war frei und ich wollte die freie Form", resümiert Martin Gruber und ergänzt: "Die Freiform ist die Essenz, auf die ich mein Architekturverständnis – wenn ich müsste – reduzieren würde."
Nicht nur das Projekt selbst, auch die Lage ist traumhaft. Zwischen dem Eisacktal und Tinnebach gelegen, bietet der Bauplatz in beinahe 1000 Metern Höhe einen Panoramablick über die Südtiroler Alpen. Für Gruber bedeutet diese Schönheit Alltag und Privileg. Er wohnt mit seiner Familie auch an der Hofstelle "Unterrungger".
Die Berglandschaft und die Natur Südtirols haben Martin Gruber geprägt – als Architekt und Landschaftsplaner formt er nun seine Umgebung. Aber behutsam. Die Verbindung mit dem Genius loci müsse leicht lesbar sein, definiert der 45-Jährige: "Selbsterklärend und formgebend." Architektur bleibt für ihn beständig ein Teil der Landschaft, ordnet sich der Natur unter: "Die Arbeit mit der Gebäudehülle gleicht jener eines Bildhauers. Mit dem Unterschied, dass die Skulptur begehbar ist."
Spuren einer Wolke
In seiner Doppelrolle als Architekt und Bauherr versuchte der Südtiroler das Experimentelle, das Inspirierende des Raumes zu erspüren. Gefunden hat er die passende Form dafür, "dass Architektur selbst Teil der Natur ist: organisch und frei".
Neben dem sanierten Bauernhaus blickt seit Kurzem ein zeitgenössischer Glaspavillon über das Tal, wobei der Solitär kaum auffällt, kein Fremdkörper ist. Martin Grubers "Freiform" basiert allein auf Inspiration. Sie ergab sich aus der Topografie, dem Lauf des Tageslichtes sowie einer Verdichtung der Aussicht. Dass der Grundriss spontan entstanden ist, offenbart der sanfte Schwung der Traufkanten, die vom darüberliegenden Hang aus unter dem begrünten Dach eine feine Kontur aus hellem Beton zeichnet. Von oben betrachtet wirkt es fast so, als zeichne das Bauwerk beiläufig den Schatten einer vorüberziehenden Wolke nach.
"Der Ort der Sehnsucht ist für mich in Bewegung. Im Nicht-Ankommen erkenne ich das Ideal. "
Weil der Neubau komplett in die Landschaft integriert und von der Ferne aus betrachtet kaum sichtbar ist, konnte das Projekt auf Anhieb genehmigt werden. Überraschenderweise stellte das lokale Baurecht bei dieser zeitgenössischen Gestalt keinerlei Schwierigkeiten dar. Der im Grundriss organisch geformte Raum verstärkt die Wahrnehmung der Umgebung.
Wer den Pavillon betritt, steht dank der Panoramafenster mitten in der Landschaft, was die "Freiform" zu einem charmanten Hybrid aus Gästehaus und Naturwarte macht. Die Fenster kombinieren Fixverglasungen und großflächige Schiebetüren. Um die Reflexion der Natur fortzusetzen, wählte der Architekt ein Kristallglas, das über den Rahmen gezogen wird.
Unendlicher Ausblick
Martin Gruber kann den Horizont seiner Heimatberge auswendig zeichnen. Für ihn ist die Schnittstelle zwischen innen und außen mehr als ein Fenster – im Inneren bleiben Tages- und Jahreszeiten permanent spürbar. Die finale Deckenhöhe des komplett verglasten Raumes hat der Architekt nicht nur über Skizzen und Modelle, sondern auch mittels VR-Brille untersucht.
Damit der Innenraum im Zusammenspiel mit dem sichtbaren Deckenvorsprung weder drückt noch streckt, ergibt sich eine Höhe von 2,70 Meter. Und während Berg und Tal durch das Haus fließen, sollen die Gäste das Gefühl haben, der Natur so nah zu sein, als könnten sie vom Bett aus das Gras berühren.
Den fesselnden Blick begleitet ein Gefühl der Entschleunigung. "Jeder findet sich selbst", sagen die Grubers. "Wir wollten ein Haus, in dem man sich von der Enge befreien kann."
Anita Gruber ist die gute Seele der "Freiform". Die studierte Tourismusmanagerin betreibt das private Refugium, das als Kleinod kontemporärer Baukunst nicht nur Architekturinteressierte, sondern immer wieder auch internationale Architektinnen und Architekten nach Südtirol lockt. "Wir wollten immer die Welt zu uns holen. Das ist gelungen", freuen sich Martin Gruber und seine Frau über den Austausch und neue Freundschaften.
"Architektur muss archaisch bleiben. "
Architektur als Gesamtkunstwerk
Hüllt sich das Haus in harte Baumaterialien wie Beton und Glas, bildet der innere Kern mit weichen Hölzern und Textilien einen Ausgleich. Lokale Eiche und Loden aus der Region sorgen für eine ästhetische Balance sowie eine angenehme Raumakustik. Die 65 Quadratmeter wirken weitaus großzügiger, sind jedoch kompakt geplant, was das offene Raumgefüge kaschiert.
Gäste loben die Ruhe, die meditative Wirkung und das besondere Licht. "Konzepte machen Spaß, wenn man sie bis zum Ende durchziehen kann. Erst dann entfalten sie eine besondere Kraft", weiß Martin Gruber. Für sein Gästehaus hat er deshalb jedes Detail entworfen: vom Schrankeinbau über den Waschtisch bis zum Kleiderhaken. Sogar die Lichteinlässe wiederholen das Prinzip des Grundrisses.
"Architektur muss in erster Linie schön sein", lautet eine Maxime Grubers. Diesem Anspruch begegnet er mit philosophischer Weitsicht: Schönheit wolle erkannt werden und entstehe eher im Abwarten als im Hinterherrennen. Und die Freiform? Sein Gästehaus sei für ihn eine besondere Reise gewesen: als Bauherr und als Architekt. Eine Form, die eben keine vier Seiten hat, inspiriert ihn: "Sie gibt dem Statischen eine Dynamik, lässt Hartes weich werden. Die freie Form ist sensibel und nachtragend." Mit Blick auf die erhabene Ewigkeit der Berge folgt der Neubau der Logik einer dramatischen Landschaft, ohne dabei selbst Protagonist zu werden. Er bleibt eine Bühne.
Geografisch liebt Martin Gruber neben seiner Heimat besonders das flache Licht Skandinaviens, den dortigen Umgang mit der Natur, die Architektur von Alvar Aalto. Auch sein Sehnsuchtsort liegt in Finnland: Rautavaara erinnert ihn an seine Zeit als Leistungssportler. Dort wurde er 1998 Vizeweltmeister im Naturbahnrodeln. Rennrodler steuern intuitiv auf verschneiten Waldwegen durch unberührte Landschaften. Die freie Linie: Sie war schon immer da.