Architektur
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Audemars Piguet-Museum in der Schweiz

Text Joern Kengelbach
Datum09.06.2020

Ein Uhrenmuseum in der Schweiz? Klingt erst mal rückwärtsgewandt. Aber der dänische Architekt Bjarke Ingels hat für Audemars Piguet in Le Brassus ein Manifest für die Zukunft errichtet.

Wer in der Geschichte der Zeitmessung zurückschaut und sich nicht gleich verführen lässt von der allgegenwärtigen Begeisterung für moderne Armbanduhren, sondern sich auf die Suche begibt nach historischen Taschen- und Tischuhren bis hin zu antiken Messinstrumenten, landet zwangsläufig bei der Architektur. Die ersten Vorläufer moderner Uhren waren nämlich hausgroße Konstruktionen – wie die gigantische, zehn Meter hohe chinesische Wasseruhr von Su Song aus dem Jahr 1090 nach Christus. Und wer sich dann durch buddhistische Glockenschlagtürme oder das indische Jantar Mantar, einer frühen astronomischen Sternwarte in Jaipur gewühlt hat, findet irgendwann heraus: Selbst die englische Bezeichnung für Uhr, clock, beschreibt ein Bauteil, denn das lateinische Wort clogga heißt auf Deutsch Glocke. Diese frühen Uhrwerke in Form architektonischer Gebilde kommen einem heute ungefähr so fremd vor wie das, was der dänische Architekt Bjarke Ingels nach sieben Jahren Planung in das Vallée de Joux im Schweizer Jura für die Luxusuhren-Manufaktur Audemars Piguet gepflanzt hat. Oder eher vergraben. Das galaxieartige Gebilde liegt auf jeden Fall ungefähr zwei Autostunden von Genf entfernt und beherbergt dessen neues Uhrenmuseum.

Die Anlage in Form zweier ineinander verschlungener Spiralen betritt man entweder durch den historischen Firmensitz oder das moderne Headquarter, zwischen die es sich schlängelt. Je nach persönlicher Prägung fühlt man sich auf den ersten Blick an die Mischung aus einem lebensmüden Entwurf für einen Abenteuer-Kindergarten und das geheime Forschungslabor eines James-Bond- Bösewichts erinnert. Um was es sich genau handelt, erklärt der Architekt persönlich, der vorab eigens für AW angereist ist, bevor ab dem 25. Juni neben begeisterten Uhrensammlern auch Architekturfans ihre neue Bjarke-Ingels-Pilgerstätte an der Ausfallstraße des Städtchens Le Brassus vorfinden werden. Denn neben den rund 300 teils exzeptionellen Exponaten, die Museumsdirektor Sébastian Vivas in jahrelanger Recherche zusammengetragen hat, ist die eigentliche Sensation dieses Museums das Erlebnis der Architektur in der Landschaft.

Schon bei der Begrüßung mit dem Star-Architekten in den lichten Räumen beschleicht einen das Gefühl: Hier stimmt etwas nicht. Und in der Tat:

Zwei eigentlich essenzielle Architekturelemente fehlen vollkommen: Stützen und Wände. Um einen herum gibt es nur Glas, über einem schwebt spiralförmig, unterbrochen von Shedlichtern, die Decke. Der Architekt errät die Gedanken des Betrachters: „Alle tragenden Wände sind aus gebogenem Glas“, sagt er und stürmt mit der ihm eigenen Art los. Zu einen Ort, an dem vier Glasscheiben dick wie Tischtennisplatten zusammentreffen. Ingels erklärt: „Das Stahldach wiegt 470 Tonnen. Wir sind in einer Erdbebenzone, aber dank der Wölbung der Scheiben hält es.“ Und er lächelt. Dieses Lächeln kennt man von Bjarke, es ist sein Markenzeichen und jede Wette: Er setzt es ein, wenn er Bauherren überzeugen will, auf das Dach einer Müllverbrennungsanlage eine Skipiste zu installieren (wie jüngst in Dänemark) oder einen Wolkenkratzer mit Innenhof zu entwerfen (wie soeben in New York). Wie er es geschafft hat, das zwar durch mutige Uhrendesigns bekannte Familienunternehmen zu überzeugen, einen taghellen Pavillon für so etwas Filigranes und Wertvolles wie Uhren zu entwickeln? Ingels Antwort: „Es war nicht so schwer, sie zu überzeugen: Mechanische Uhren funktionieren nach dem Prinzip des minimalen Kraftaufwandes bei größtmöglichem Output. Gerade bei komplizierten Uhren, die diese Firma so gut beherrscht, sind die Uhrmacher geradezu besessen davon, das Maximale aus dem Material herauszuholen. So funktioniert auch dieser Entwurf.“ Und er ergänzt: „Olivier Audemars erzählte mir beim Kennenlernen außerdem von sogenannten mysteriösen Tischuhren aus dem 19. Jahrhundert: Dabei befanden sich die Zeiger auf Glasscheiben, die scheinbar frei in der Luft schwebend durch einen im Sockel verborgenen Mechanismus angetrieben werden.“

Eher praktisch als mysteriös waren die Probleme später auf der Baustelle: In der Gegend sind nur Satteldächer erlaubt, ab einem bestimmten Zeitpunkt wurde die gesamte Kleinstadt in die Baugenehmigung eingebunden. „Alle waren begeistert“, erinnert sich Ingels, „aber nachdem sie den Entwurf ohne Wände und Stützen genehmigt hatten, fragten wir uns: Wie kriegen wir das Regenwasser weg von einem Gründach?

"ALLE TRAGENDEN WÄNDE SIND AUS GEBOGENEM GLAS"
Bjarke Ingels

Und als das Problem gelöst war, standen wir vor einem viel größerem: Auch wenn das Gebäude wie traditionelle Uhrmacher-Workshops überwiegend nach Norden ausgerichtet ist, mussten die energetischen Gebäudevorgaben erfüllt werden! Vorhänge kamen nicht infrage.“ Schließlich einigte man sich auf ein punktgeschweißtes Messinggeflecht, kaum einen Millimeter dünn. Das maßgefertigte Material wurde es so geformt, dass es gegen die Sonne das Licht fast vollkommen abschirmt, aber mit sich änderndem Lichteinfall über den Tag genau die richtige Menge durchlässt. Architekt und Bauherr, Museumsdirektor Vivas, der sich im Laufe des Gesprächs dazugesellt, sind sichtlich stolz. Ingels: „Es ist mit derzeit das einzige Projekt von mir, bei dem meine Ideen bis ins Detail umgesetzt wurden.“

Die Idee zu der Spiralform kam Ingels übrigens bei einer Stippvisite in der Manufaktur nach einem Skiwochenende in Sankt Moritz: „Ein Restaurator führte mich in die Fertigung von Spiralfedern ein. Die doppelte Spiralform ist kein Gimmick, sondern hat den Vorteil, dass sie zugleich eine lineare wie sprunghafte Besucherführung zulässt – genau, was der Bauherr wünschte.“ Der Direktor ergänzt: „Uns hat von Anfang an beeindruckt dass man sich drinnen und draußen zugleich fühlt. Jeder Besucher sollte sofort erkennen, wie wichtig uns unser Tal, unsere Geschichte sind, aber das durfte nicht zu didaktisch rüberkommen.“ Genau dies erfüllt der Entwurf nun wirklich vorbildlich, während der Blick über die Bänke der Uhrmacher bis auf die andere Talseite geht. Trotz irrend-betörender Ausstellungsarchitektur, die das Deutsche Büro Brückner & Brückner entwarf, kommt eine fast tempelartige Stille auf.

"BIS INS DETAIL WURDEN MEINE IDEEN UMGESETZT, WAS SELTEN IST"
Bjarke Ingels

Beschäftigt sich ein Architekt, der so gefragt ist, eigentlich mit der Zeit? Ingels: „Sébastian und ich sind Vater geworden während der Bauarbeiten. Mein Sohn Darwin ist 15 Monate alt, das verändert das persönliche Zeitempfinden.“ Aber auch seine Arbeit sei stark geprägt von Zeit, gesteht er nach einer kurzen Denkpause: „In New York entwickeln wir gerade einen Flutschutz in Manhattan namens Dryline für ein Hochwasser, das theoretisch einmal alle 500 Jahre stattfindet. Wer denkt, das sei lange hin, irrt.“ Ingels rechnet vor: „Ich bin jetzt 45. Vielleicht schaffe ich 90. Mein Sohn kriegt vielleicht früher Kinder, und meine Enkel wären zehn, wenn ich sterbe. Wenn Sie gesünder leben als ich, werden sie 100 Jahre alt, macht insgesamt 155 Jahre. Also wird im Jahr 2175 noch jemand auf der Erde sein, den ich geliebt habe.“ Ob dann dieses Museum noch stehen wird? Macht der Mann sich Gedanken um sein Vermächtnis? Ingels erzählt dazu eine Anekdote: „Ich war vor Kurzem in Kurdistan und sollte dort ein Stadtzentrum entwerfen. Man zeigte mir eine 2575 Jahre alte Synagoge, im Verfall begriffen, aber die Kerzenhalter hingen noch an der Wand. Als ich fragte, wie lange das Gebäude schon außer Betrieb sei, hieß es: 50 Jahre. 2525 Jahre funktioniert demnach alles prima, weil Menschen sich liebevoll um eine Sache kümmern, und dann hat man in 50 Jahren bereits eine Ruine. Architektur überlebt nur, wenn sie geliebt wird.“

Wer Ingels liebt, kann sich auf das nächste Projekt nebenan freuen: Im kommenden Jahr wird das Hotel von Audemars Piguet fertig, das erste einer Uhrenfirma, mit Skipiste auf dem Dach. Da ist es wieder, dieses Lächeln.