AW Designer des Jahres 2014: Werner Aisslinger
Er entwirft avantgardistische Möbel und designt Gehäuse für Drucker. Er gestaltet Interieurs für Szenehotels und entwickelt Hightech-Kabinen für Krankenwagen. Und er hat Visionen für das Leben von morgen. Vielseitigkeit ist das Markenzeichen von Werner Aisslinger. Der Wahlberliner ist "AW Designer des Jahres 2014".
Spontan hört es sich nicht unbedingt nach einer Eins-a-Lage an: Moabit. Die Heidestraße beginnt gleich hinter dem Berliner Hauptbahnhof. Hier hat Werner Aisslinger sein Studio. In einem alten Gewerbehof, der mittlerweile recht allein steht. Berlin ist im Umbruch. Wie meistens. Moabit soll aufgepimpt werden. Entlang der Heidestraße wird eine Trasse mit schicken neuen Bauten für schicke Büros und noch schickere Lofts entstehen. Eigentlich nicht gerade das Umfeld, in das es Kreative zieht. Die fliehen eher davor.
Werner Aisslinger steht am Straßenrand und zeigt vom Hauptbahnhof weg. Dort hatte der Ableger der avantgardistischen Londoner Galerie Haunch of Venison mit spektakulären Ausstellungen für anspruchsvolles Publikum gesorgt. Weg! Gegenüber hatte Fotokünstler Thomas Demand sein Atelier. Auch nicht mehr da! Jetzt gibt es im Gewerbehof in alten Galerieräumen einen Werkzeug- und Baumaschinenverleih, hinten klappert ein Getränkehändler in seinem Lager.
In den besten Zeiten drängelten sich hier die Stars der Szene. Zwei Etagen über Aisslingers Studio residiert das Büro Graft, angeblich die Lieblingsarchitekten von Brad Pitt. Aber die bleiben auch nicht mehr lange, haben sich in Mitte eine neue Bleibe errichtet. Unter seinem Studio die Galerie Tarek, Spezialisten für türkische und osteuropäische Kunst. Die bleiben. Erst mal noch. Gegenüber des Gewerbehofs ist der Hamburger Bahnhof, eines der renommiertesten Museen für zeitgenössische Kunst in Berlin. Das bleibt auf jeden Fall.
Noch ist die Lage eins a, immer noch gute Nachbarschaft, Blick auf Bahnhof und Reichstagskuppel. Und mit Blick auf das neue Landmark, das ziemlich gelungene Total-Hochhaus, den Vorboten der geplanten Neubebauung. Vor allem aber: viel Platz für überschaubares Geld (alter Mietvertrag). Und den kann er gebrauchen. Eigentlich eher mehr. Die 500 Quadratmeter stehen gerammelt voll: mit Kisten, Prototypen, Modellen von überdimensionierten Lampenschirmen; Entwürfe von Regalen aus Büchern, die als Seitenwände und Ablagefläche zweckentfremdet werden, dazwischen, leicht zu übersehen, Tische mit Rechnern für die fünf, sechs, sieben Mitarbeiter, je nach Intensität und Aufwand der Projekte. Und die haben es in sich: Werner Aisslinger arbeitet im Moment gleichzeitig – nur eine kleine, unvollständige Auswahl – am Interieur des neuen Szenehotels 25 Hours im Herzen Berlins und an einem weiteren dieser Kette in Zürich; außerdem entwirft er Druckergehäuse für Canon, natürlich diverse Möbel – und nebenbei eine Hightech-Kabine für einen Intensiv-Krankentransportwagen. Wie kommt denn so ein Auftrag zustande? „Die sind auf mich aufmerksam geworden durch den ‚Loftcube‘, die dachten wohl, wenn einer so ein Ding komplett durchdenken kann, dann auch unser Projekt.“
Das „Ding“, der „Loftcube“, ist eins seiner leicht phantastisch, ja waghalsig anmutenden Projekte, die er selbst gern als „Denkanstoß“ bezeichnet. Die aber nicht visionäre Luftschlösser bleiben, sondern sich hartnäckig in der Realität etablieren. Es handelt sich dabei um ein Wohnmodul, ein Zimmer, Küche, Bad, das nahezu autark ist und auf flachen Hausdächern, in Gärten oder wo auch immer ein Versorgungsanschluss zur Verfügung steht, andocken kann. Eine gebaute Wohn-Vision für wirklich moderne Nomaden. Für den Umzug wird ein Helikopter gebucht.
Werner Aisslinger hat keine Ikone geschaffen, die sich ins allgemeine Design-Gedächtnis eingebrannt hat, er hat nicht den unverwechselbaren Stil, die wiedererkennbare Formensprache. Im Gegenteil. „Ich bin nicht der Typ, der eine Idee totreitet“, sagt er. Dafür hat er ein waches Auge, Spaß am Unbekannten und den Mut, sich in fremden und gänzlich unterschiedlichen Gestaltungsdisziplinen zu probieren und zu beweisen. Zum Beispiel: Pflanzen, deren Wachstum so gelenkt wird, dass sie sich selbst in Stuhlform verknoten, Armbanduhren, die Vision einer neuen Hausverkleidung mit Stoffen, ein kommunizierender Kühlschrank, eine sich energetisch selbst versorgende Küche – tatsächlich hat er das alles gestaltet.
Der frisch gebackene A&W-Designer des Jahres 2014 wohnt seit Kurzem in Kreuzberg, Görlitzer Straße, im berüchtigten ehemaligen Bezirk SO 36. Gegenüber der „Görli“, ein Platz für das pralle Leben: Barbecues, Partys, Drogen, Sex & Crime. Aisslinger hat sich eine Wohnung in der zweiten Etage angemietet. 190 Quadratmeter. „Darunter hat mal Hindenburg gewohnt.“ Im Flur stehen noch etliche Umzugskartons unausgepackt. „Ich bin ja selten hier. Viel auf Reisen und im Studio“, sagt er ein wenig entschuldigend. So ganz scheint er noch nicht in seiner, wie er es nennt, „neuen Lebenssituation“ angekommen zu sein – mit Freundin statt Frau und Kindern.
Der Wohnraum ist schon eingerichtet. Eine Regalwand, Holz, skandinavisch aus den 60ern, grüngelbes Sofa, Eigenkreation für eine spanische Firma, „ich komm gleich drauf. Irgendwas mit J“. Es ist das „Low“-Sofa von Joquer. Wer so aktiv ist, kann sich nicht jedes Detail merken. Vom Sofa blickt er auf die Wand des Nachbarhauses, bewachsen mit Efeu. Immergrün. Nett von den Nachbarn. Im Hintergrund spielt und singt José González chillige, meditative Gitarrenmusik. In der Mitte des Nachbarraums ein großer Esstisch, drum herum mehrere Exemplare des „Nic Chair“ und des „Juli Chair“, alle weiß, einer rot. Zwei seiner frühen Erfolge, zehn und 15 Jahre ist das schon her. Und was für Erfolge! Beide, das merkt er in einem kleinen Nebensatz an, wurden aufgenommen in die ständige Sammlung des MoMA. Ein doppelter Ritterschlag. „Na ja“, wiegelt er ab, „in ihrer Zeit waren sie eben technisch innovativ.“ Das hört sich an, als ob jemand von vor langer, langer Zeit spricht. Dabei ist Werner Aisslinger noch nicht einmal 50, später Jahrgang 64. Geboren in Nördlingen, im gerade noch bayrischen Schwaben. Es ist die Heimat eines weiteren deutschen Stars: Gerd Müller, „Bomber der Nation“, ewiger Rekordschütze des FC Bayern und der Fußball-Nationalelf. „Wir sind sogar am gleichen Tag geboren worden, glaube ich“, schmunzelt Aisslinger. Stimmt. 3. November. Offensichtlich ein spezieller Tag des beschaulichen Städtchens.
Nach einer behüteten Jugend in der Provinz zieht es ihn in die große Welt, in die Welt der Kunst. Aber die Berliner Hochschule will wohl den Künstler Aisslinger nicht, den Designer dafür gern; diese zweite Bewerbung ist erfolgreich. Und er merkt schnell: Hier bin ich genau richtig. Er lässt sich aufsaugen von der Welt des Industrie- und Produktdesigns, oft ist er von zehn bis zehn in der Uni. Allerdings: Der Hochschulbetrieb ist auch eine Käseglocke. Jeder klopft dem anderen auf die Schulter. Viele bleiben in dem Biotop. Aisslinger muss raus. Geht nach London zu Ron Arad (A&W-Designer des Jahres 2004), als der noch Plattenspieler aus Beton macht. Hospitiert bei Jasper Morrison. Damals zwei Designstars in den Startlöchern.
London reizt ihn, Mailand auch. Aber er entscheidet sich, in Berlin zu bleiben. „Ich bin früh Vater geworden, vielleicht bin ich deswegen hiergeblieben“, sinniert er. „Ist aber auch eine coole Stadt.“ Pause. „Nur schwer, Geld zu verdienen.“ Was macht also ein freischaffender junger Designer in Berlin? Er packt seine Ideen ins Auto und fährt gen Süden. Richtung Mailand. Ins Möbel-Mekka. „Möbel sind die Chance für Freelancer. Die Produzenten sind zu klein, sich wie die Autofirmen eigene Designabteilungen zu halten, arbeiten also gern mit Freien.“ Deshalb Mailand und nicht München oder Wolfsburg. „Ich kann ja nicht zu VW gehen und sagen, ich will ein Auto machen.“ Zu Porro aber schon. Das Ergebnis: das „Endless Shelf“. Ein modulares Regalsystem mit einem Alukreuz als Steckverbindung. Ein Erfolg für ihn und das Unternehmen.
Das wiederum registriert Giulio Cappellini. „Der sagte mir: ‚Deine nächste Idee kannst du gern mir präsentieren.‘“ Die nächste Idee war der „Juli Chair“, für den Aisslinger Integralschaum, der eigentlich für Autolenkräder eingesetzt wird, für erhöhten Sitzkomfort genutzt hat. Also wieder nach Mailand. „Ich hab ihn Giulio auf den Tisch gestellt. Fand er gut.“ Das fand auch A&W und hat Werner Aisslingers Wirken seit 2000
in regelmäßigen Abständen aufmerksam begleitet.
Heute ist Werner Aisslinger gut im Geschäft. Nicht zuletzt wegen seiner Vielseitigkeit. „Mit Möbeldesign allein kannst du kaum leben“, resümiert er. Die jungen Absolventen, die auch er als Dozent an der Hochschule für Gestaltung ausbildet, gehen deshalb auch ganz andere Wege. Viele Designer machen kleine, persönliche, individuelle Serien. Die Leute wollen nicht mehr den Hightech-Stuhl, sondern den authentischen. Bei dem man den Künstler und Handwerker spürt. „Ich habe nicht so eine Ambition. Wenn, dann mache ich gleich richtig Kunst.“ Diese Neigung befriedigt er mit freien Projekten, wie den „Mesh Vases“, in Textilbeutel mundgeblasene Glasvasen, wodurch einzigartige Skulpturen entstehen, und seinen „Denkanstößen“, wie dem Konzept „Kitchen Farming“, einer sich energetisch selbst versorgenden Küche mit einem System mit Pflanzen und Fischen in Aquarien, die sich gegenseitig befruchten und bewässern. Allerdings – das ist vor allem etwas für Geist und Seele. Lukrativ wird es erst langsam bei großen Aufträgen wie dem Einrichten von Hotels. Er hat schon einige gestaltet: etwa das Daniel in Graz, das hochgelobte Michelberger in Berlin, das Meininger Downtown Franz in Wien, ein elegantes Hostel-Konzept. „Hotel ist ein Riesengeschäft. Letztes Jahr waren allein 100 Millionen Chinesen unterwegs. Tendenz steigend.“
Sein neuster Coup wird das 25 Hours in Berlin, direkt am Zoo, gegenüber der Gedächtniskirche. Es ist Teil der groß angelegten Auffrischung des Quartiers am Bahnhof Zoo. Das Waldorf Astoria nimmt schon Gäste auf, der Zoo Palast, das legendäre Premierenkino, wird aufwendig restauriert, der Komplex wird mit exklusiven Läden bestückt. Die 50er-Jahre-Architektur, mit Luftgeschoss im zweiten Stock, hat natürlich – typisch Berlin – einen Spitznamen: „Bikini“ nennen ihn die Hauptstädter. Aisslinger findet das nicht so klasse, „ein bisschen icke-mäßig, oder?“
Das 25 Hours Bikini ist in einem zehnstöckigen Hochhaus direkt neben dem Zoo-Haupteingang untergebracht, Dachrestaurant und Bar mit Blick über die Stadt, 150 Zimmer mit Hängematten, die Rückseite des Gebäudes ist verglast. „Man schaut vom Zimmer ins Affenhaus“, schwärmt Aisslinger. Das würde ja schon reichen. Aber er hat eine Quintessenz seines Schaffens integriert: „Hier wollen wir Ideen testen, es soll ein Labor sein, Dinge, die mit der Stadt zu tun haben. Es gibt Mikrofarming im Restaurant, einen offenen Sauerteigbrotofen, man kann sein Fahrrad mit aufs Zimmer nehmen. Wir wollen auch Publikum, also die Berliner reinholen.“ Dieses Hotel soll nicht das immer gleiche Lebensgefühl der Kettenhotels ausstrahlen. „Man will ja eigentlich nicht hinfahren, wo man schon herkommt.“
Im Januar ist Soft Opening, im Frühjahr dann die offizielle Eröffnungsfeier. Werner Aisslinger ist elektrisiert, nicht nur, weil er gerade das neuste Großprojekt vollendet: „An so einem Konzept beteiligt zu sein, und das in der eigenen Stadt, das ist schon etwas Besonderes.“ Seine Augen leuchten: „Da werde ich selbst hingehen. Ich sehe mich in der Bar sitzen und mit Freunden einen Drink nehmen. In der eigenen Bar. Cool!“
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