AW Designer des Jahres 2013: Bouroullec Brüder
Ihr Studio gleicht einer Rockband. Sagen sie. Sie hätten auch gute Schauspieler abgegeben. Finden sie. Sie vergleichen sich mit dem Fuchs und Igel eines philosophischen Essays. Und sie unterhalten sich mittels ihrer Zeichnungen, die als Inspirationsquellen in die Fotos dieser Produktion projiziert wurden. Die beiden bretonischen Brüder Ronan und Erwan Bouroullec sind A&W-Designer des Jahres 2013.
Ein Augenpaar sucht sehnsüchtig die Studiodecke ab, ein zweites versucht, das erste zu fixieren. Fragend? Hilfe suchend? Herausfordernd? Eindringlich! Es ist mucksmäuschenstill. Nur das Kratzen des Bleistifts auf dem Zeichenblock ist zu hören und hin und wieder Geräusche, die sich im Ungefähren zwischen Flüstern und Murmeln verlieren.
Ronan und Erwan Bouroullec sind mitten in einer intensiven Diskussion. Ronan steht am Fenster des Studios. Erwan sitzt an seinem Schreibtisch vor dem Computer, vor allem aber vor einem Haufen Skizzen. Es geht um einen neuen Entwurf. Einen Stuhl. Ein Detail. Die Form des Details. Eine Linie dieser Form. Die Kurve der Linie. Es geht um ein Grad mehr oder weniger. Es geht um alles. Um das Wie. Noch mehr um das Warum. Es ist leises Für und Wider. Ein schweigender philosophischer Diskurs.
Ronan, der fünf Jahre ältere der Bouroullec-Brüder, lässt sich etwas zerknautscht an seinem Schreibtisch nieder. Die beiden haben gerade eine Zehn-Tages-Tour nach Chicago und Köln hinter sich. „Es geht nicht immer so still zu bei uns“, relativiert er sofort die meditative Stimmung. „Es kann bei uns auch chaotisch und laut werden.“ „Aber immer konzentriert“, wirft Erwan ein. Der vollbärtige, kettenrauchende Erwan ist der Ernstere der beiden. Ein richtiger Spaßvogel ist aber auch Ronan nicht.
In Köln mussten sie Pressetermine zur Einführung der „Workbays“, eines neuen Office-Konzepts aus modularen flexibel einsetzbaren Arbeitsinseln für Vitra absolvieren, in Chicago haben sie im MCA die Ausstellung der Retrospektive ihres Werkes inszeniert. „Oh, mein Gott“, stöhnt Ronan. „So eine Ausstellung ist natürlich eine große Ehre. Aber sie macht mich eher depressiv. Mir wird bewusst, wie alt ich werde.“ Das führt ein wenig in die Irre. Ronan ist Jahrgang 71, also gerade mal 41. Eher macht die Ausstellung mit über 100 Exponaten klar, wie viel die beiden Brüder schon geschaffen haben. Und wie früh sie damit begonnen haben.
Von Fußball zu Gestaltung
Ronan weiß bereits im zarten Alter von 15 Jahren, dass er Gestalter werden möchte. Fußballer hätte ihm auch gefallen. Aber just in der Zeit, als er beginnt, mit dem nachmittäglichen Kunstkurs in seiner bretonischen Heimatstadt Quimper die gähnende Langeweile der Schule zu kompensieren, merkt er, dass sein Talent für einen Profivertrag in der französischen Fußballliga wohl nicht reicht.
Mit 17 geht Ronan nach Paris auf die Kunsthochschule ENSAAMA („furchtbar, die waren noch im strengen alten Dogma ‚form follows function‘ gefangen“), danach auf die École nationale supérieure des arts décoratifs in Paris („auch nicht viel besser; ich mag wohl keine Schulen“), an der er gerade so eben sein Diplom schafft und im selben Jahr ein Designbüro gründet.
Erwan, als Zweitgeborener fünf Jahre im Rückstand, mittlerweile eingeschrieben für Freie Kunst an der École nationale supérieure d'arts in Cergy-Pontoise vor den Toren von Paris, arbeitet während seines Studiums als Assistent an den ersten Entwürfen bei seinem Bruder mit. Künstler will er sowieso nicht werden: „Zu konzeptionell. Zu elitär. Die Leute haben viel zu viel Respekt vor der Kunst.“ Findet er. 1997 präsentieren die beiden ihre „Disintegrated Kitchen“, ein modulares, offenes Küchenkonzept, auf dem Salon du Meuble in Paris und werden von Giulio Cappellini entdeckt, für den sie erste kommerzielle Entwürfe machen. Sie merken schnell, dass Erwan, der Computerexperte der beiden, nicht nur assistiert, sondern dass sie schon lange in intensiver Verbundenheit gemeinsam gestalten. Fortan treten sie als Team auf. Als untrennbare Einheit – Gestaltung mit vier Händen.
Mitarbeiter wie eine Rockband
Mit ihrem Studio sind die beiden vor ein paar Jahren aus dem etwas unruhigen Vorort Saint Denis in einen Hinterhof im 10. Arrondissement im innenstädtischen Pariser Norden umgezogen. Relativ klein ist es immer noch. Fünf feste Mitarbeiter, ein paar Praktikanten, „die dann oft zu festen Mitarbeitern werden“, berichtet Erwan. Ein organischer Prozess. „Unsere Studio-Crew ist wie eine Rockband“, sagt Erwan. „In so einer Band hat keiner Gitarre oder Schlagzeug studiert. Das sind Autodidakten. Hier wurden die meisten, ich allen voran, auch nicht ordentlich auf der Hochschule in ‚Design‘ ausgebildet. Ronan ausgenommen. Wir lernen immer am jeweiligen Projekt dazu.“
Vielleicht nicht ganz so ausgelassen, wie man sich das Leben einer Rockband vorstellt, aber sehr entspannt geht es im Studio der beiden Brüder zu. Alle lernen gerade eifrig. An vielen Projekten gleichzeitig, die bald Deadline haben. Dass es nicht zu viele Projekte werden, ist die größte Sorge von Ronan und Erwan. Das Studio soll auf keinen Fall weiter wachsen. „So bewahren wir unsere Unabhängigkeit“, erklärt Ronan entschlossen. Ihr wichtigster Trumpf. Dafür müssen sie sehr oft Nein sagen, Aufträge ablehnen. Nur was ihnen – ihnen beiden – sinnvoll und interessant erscheint, wird nach reiflichem Abwägen übernommen. Es ist erstaunlich, wie man mit dieser Strategie ein solch umfangreiches Portfolio zustande bringt.
Auch wenn sie nach eigener Einschätzung „im Prinzip nur für vier bis fünf Auftraggeber“ tätig sind, liest sich ihre Referenzliste beeindruckend: Tableware für Alessi, eine Badezimmerserie für Axor/Hansgrohe, Leuchten für Flos; Tische, Stühle, Sofas für Ligne Roset; Möbel für Magis und Kartell, die innovativen Raumteil- oder Vorhangelemente „North Tile“ und „Cloud“ für Kvadrat und natürlich vom Office- bis zum Wohnbereich zahlreiche Entwürfe für Vitra. Von denen haben viele wie die berühmten „Algues“, kleine Plastikelemente, die zusammengesteckt auch als Raumteiler fungieren, und das Sofa „Alcove“ mit sichtschützend hochgezogenen Rücken- und Seitenlehnen nicht nur bereits Klassikerstatus erreicht, sondern neue Möbelgattungen begründet.
Ronan steht hinter Erwan, schaut ihm über die Schultern auf dessen neue Skizze, setzt sich schweigend an den Tisch und beginnt ebenfalls zu zeichnen. Kurz darauf dasselbe nur umgekehrt. Erwan schaut auf Ronans Zeichnung, schweigend, geht zurück an seinen Platz, modifiziert seine Skizze. Auch das ist eine angeregte Konversation zwischen den beiden. Sie unterhalten sich – im Wortsinn, auch wenn sich das in diesem Zusammenhang merkwürdig anhört – ohne Worte mittels ihrer Zeichnungen. Sie erkennen, was der andere meint.
„Wir sehen uns nur zum Arbeiten“, erzählt Ronan. „Es kostet sonst zu viel Energie.“ Sie würden auch abends im Restaurant, in der Bar, in der Theaterpause ihren Diskurs aus dem Studio sofort wieder aufnehmen. Um sechs Uhr ist Schluss mit Design. Dann gehen sie zu ihren Familien, Ronan zu seiner Frau, der Designerin Inga Sempé und seiner kleinen Tochter, mit denen er gut fünf Minuten entfernt vom Studio wohnt. Erwan auch zu seiner Frau und kleinen Tochter, ebenfalls etwa fünf Minuten vom Studio entfernt – in die entgegengesetzte Richtung.
Konzentriert auf das Wesentliche
Am nächsten Tag, zurück im Studio, tun sie das, was ihre Arbeit im Wesentlichen ausmacht. „Wir kämpfen gegen unsere Ideen“, nennt Erwan das. Gemeint ist: Sie versuchen, ihre Entwürfe – durch Diskussionen, durch Kritik, durch Zweifel, durch Hinterfragen – auf ein Minimum zu reduzieren. „Aber die Objekte sind nicht minimalistisch“, beeilt sich Ronan klarzustellen. „Konzentriert auf das Wesentliche“, erklärt Erwan. Konzentriert ist eine ihrer Lieblingsvokabeln. Noch mehr liebt Erwan Vergleiche mit der Musik: „So wie jemand auf der Bühne mit einer Gitarre, der nur eine Minute für seinen Song hat. In dem Moment muss alles stimmen.“
Vor dem Zeichnen und dem Diskutieren kommen aber zahlreiche Gespräche mit dem Auftraggeber, das erste ausgiebige bei einem Antrittsbesuch in der Firma. „Um zu verstehen, was sie machen, was sie brauchen, was zu ihnen passt“, sagt Ronan. „Ein Stuhl, den wir für Vitra gestalten, kann etwas zurückhaltender sein, sollte es sogar, er steht im Zweifel in hundertfacher Ausführung in einem Saal.“ Für ein kleines Unternehmen wie die italienische Manufaktur Mattiazzi zählen andere Parameter. „Die brauchen etwas, das Aufmerksamkeit erregt“, bringt es Erwan auf den Punkt. „Etwas, über das die Presse berichtet.“
Bodenständige Typen
„Ein guter Designer“, behauptet Ronan, „ist wie ein guter Schauspieler.“ Er grinst ein wenig verlegen und errötet leicht, weil ihm der Vergleich doch etwas verwegen vorkommt. Obwohl: „Mit vielen verschiedenen Herstellern zusammenzuarbeiten, ist wie mit verschiedenen Regisseuren. Du musst Einfühlungsvermögen haben, du musst dich auf verschiedene Umstände, Anforderungen und Mentalitäten einlassen, du musst eine große Bandbreite bedienen können – und dabei immer du selbst bleiben.“
Ein Schauspieler und ein Rockbandleader also. Andererseits: zwei extrem zurückhaltende, bodenständige Typen, die, ohne zu kokettieren, immer wieder betonen, zwei Jungs vom Land geblieben zu sein. Ronan hat noch ein Ferienhaus in der Bretagne, in der rauen Idylle, in der er surfend und Fußball spielend aufgewachsen ist, die so nah und doch so weit entfernt von Paris ist. Eine eigene Welt, eine eigene Sprache. „Ich konnte mich nie mit meinem Großvater unterhalten“, erinnert er sich. „Der sprach kein Wort Französisch. Nur Bretonisch. Was ich wiederum nicht konnte.“
Bodenständig und bescheiden sind die Bouroullecs. Einfach allerdings nicht. Das können auch Auftraggeber zu spüren bekommen, die sich schon fast am Ziel bei einem gemeinsamen Projekt mit ihnen wähnen. „Wir scheuen uns nicht, etwas kurz vor Schluss zu stoppen, auch endgültig, wenn wir nicht hundertprozentig überzeugt sind“, sagen beide fast im Chor. Kompromisse machen sie nicht. Auch untereinander nicht. Es wird so lange diskutiert und gezeichnet, bis der Zweifler überzeugt ist. Oder auch nicht. „Wir treffen uns nicht irgendwo in der Mitte“, sagt Erwan. Ronan nickt.
Ein Möbel wie ein Freund
Wann sind sie überzeugt? Was macht gutes Design aus? „Man muss die Intensität des Objektes spüren, die Konzentration des Wesentlichen“, sagt Ronan, „es muss den Betrachter für sich gewinnen. Es braucht Charme.“ Erwan grübelt noch ein wenig. Sein Ergebnis: „Und Kultur! Es muss ein gutes Auftreten haben.“ Das kann man wohl als einstimmig bezeichnen. „Ein Möbel“, ergänzt Ronan, „sollte sein wie ein guter Freund, den man nach Hause einlädt.“
Sie sind sich sehr ähnlich und gleichzeitig total verschieden. Selbst haben sie sich einmal als Fuchs und Igel bezeichnet, nach einem Essay des britischen Philosophen Isaiah Berlin. Der Fuchs weiß von vielen Dingen etwas. Der Igel nur von einer Sache. Davon aber richtig. Das ergänzt sich prima. So spornen sich der Fuchs Ronan und Erwan, der Igel, immer wieder an, finden die Lösungen auf ganz unterschiedlichen Wegen. Erwan vertraut auf ihr Prinzip „trial and error – mittlerweile ganz souverän“. Ronans Antrieb: „Ich bin immer unzufrieden. Aber kein Perfektionist! Perfektion interessiert mich nicht.“ Charme interessiert ihn.
Noch eine Frage: Was wäre eigentlich Erwan geworden, wenn er nicht seinem Bruder in dessen Designstudio gefolgt wäre? Erwan grübelt, dann erhellt sich seine Miene: „Ich habe mal mit Kids gearbeitet, die waren sechs, sieben Jahre alt. Wir haben Drachen gebaut. Das Leuchten in ihren Augen, dass wir etwas erschaffen haben, das fliegen kann, das vergesse ich nicht.“ Kurzes Insichgehen. „Vielleicht so was.“ Etwas schaffen, das Menschen Freude macht, kleinen und großen. Für dieses Ziel sind die beiden Brüder auf einem guten Weg.
Leben und Werk der Bouroullec Brüder
Ronan (*1971) und Erwan (*1976) Bouroullec stammen aus Quimper in der Bretagne. Ronan weiß schon als Teenager, dass er Designer werden will und studiert an verschiedenen Hochschulen in Paris. Direkt nach dem Abschluss 1997 gründet er sein eigenes Studio. Erwan studiert Freie Kunst und folgt seinem Bruder als dessen Assistent. Kurze Zeit später treten sie als gleichberechtigte Partner im Team auf.
Erste Aufträge gab ihnen Giulio Cappellini. Früh begeisterte sich auch Vitra-Chef Rolf Fehlbaum für die Bouroullec-Brüder. Mit dem flexiblen Schreibtischkonzept „Joyn“ startete 2002 eine intensive, bis heute anhaltende Zusammenarbeit zwischen ihnen. Seit 2004 arbeiten die Brüder mit zahlreichen Avantgardedesign-Unternehmen wie Alessi, Axor/Hansgrohe, Established & Sons, Flos, Kartell, Kvadrat, Ligne Roset, Magis, Mattiazzi, Nanimarquina.
Sie entwerfen auch Objekte in Kleinstauflagen, die die Pariser Designgalerie Kreo präsentiert. Sie gestalten Showrooms für Kvadrat, Installationen wie das „Textile Field“ im Londoner Victoria & Albert Museum (2011) und werden in großen Einzelausstellungen geehrt, aktuell im MCA in Chicago – und in Köln mit unserer Ausstellung „A&W-Designer des Jahres 2013“.
Lesen Sie mehr über Ronan und Erwan Bouroullec in unserem Designerlexikon.